»Gott hat keine Relevanz mehr«: Warum die Evangelische Kirche auch im Usinger Land Mitglieder verliert

Auch ohne große Skandale um Missbrauch, dessen Aufarbeitung oder Prunk wie in der katholischen Kirche, verliert die evangelische Kirche stetig Mitglieder. Diese gehen jedoch aus ganz anderen Gründen als diejenigen, die die Schwesterkirche verlassen.
Hochtaunuskreis . Nicht nur die katholische, auch die evangelische Kirche hat seit vielen Jahren mit einem Rückgang ihrer Mitgliederzahl zu kämpfen. Allerdings sind es andere Gründe als bei der Schwesterkirche. Während die Katholiken damit hadern, dass sexuelle Missbrauchsfälle unzureichend aufgearbeitet werden und eine fehlende Konsequenz durch die Priesterschaft damit einhergeht, so sei es in der evangelischen Kirche vor allem ein gewisser Traditionsabbruch und eine immer geringere Relevanz des christlichen Glaubens für das eigene Leben, erklärt der Pressesprecher des Dekanats Hochtaunus, Jens Meier.

Problem: Der Glaube wird heutzutage nicht mehr weitergegeben
»Wir haben eher das Problem, dass der Glaube nicht weitergegeben wird. So beobachten wir, dass Eltern im christlichen Glauben wenig Relevanz für das eigene Leben erkennen können und dies an ihre Kinder so weitergeben«, sagt der Pressesprecher. Diese Entwicklung sei seit längerer Zeit aus Städten bekannt, beträfe nun aber auch vermehrt die Gläubigen auf dem Land. Dabei sei seit den 1970er Jahren eine Austrittswelle zu beobachten, so Meier. Im Schnitt seien es etwas 1,5 Prozent jedes Jahr, im vergangenen Jahr jedoch waren es etwa 2,5 Prozent. »Wir beobachten also eine Steigerung der Dynamik«, bekennt er, die die evangelische Kirche sehr ernst nehme. Die Anzahl der Mitglieder hat sich demnach von 85 298 im Jahr 1980 auf 50 140 im Jahr 2020 reduziert. Im Usinger Land gibt es noch 18 300 Mitglieder in der Evangelischen Kirche Hessen Nassau (EKHN).
In Studien habe sich herauskristallisiert, dass zwar die »Hochverbundenen« - also sehr gläubige, kirchentreue Menschen, auf keinen Fall austreten würden, die Kirche aber besonders in der Peripherie Gläubige verliere, die eben kein so enges, persönliches Verhältnis zur Kirche pflegten. Ebenso ginge die Unterstützung derjenigen zurück, die wenig gläubig sind, Kirchen aber als eine gemeinnützige Organisation wahrnehmen, die man mit seinem Kirchensteuerbeitrag unterstützen kann.
Nachwuchsmangel bei Pfarrern sorgt für Verschärfung der Krise
Dass die evangelische Kirche immer mehr an Substanz verliert, zeige sich eingehend auch an der Pfarrsituation. »Das Netz der Pfarrerschaft wird immer dünner. Die Landeskirche hat vor 40 Jahren viele Menschen eines Alters eingestellt, die nun alle pensioniert werden. Und uns geht es ebenso wie der katholischen Kirche - es gibt kaum Pfarrernachwuchs - zumindest nicht in der Größenordnung, dass diese Entwicklung kompensiert werden könnte«, sagt Meier.
Zudem habe sich gezeigt, dass der persönliche Bezug zum jeweiligen Pfarrer ein ausschlaggebender Punkt für Gläubige sei, sich in einer Kirchengemeinde zu engagieren und regelmäßig an Gottesdiensten teilzunehmen. »Die Beziehung nimmt zu, je mehr die Menschen ihren Pfarrer wahrnehmen, persönlich kennen und mit ihm oder ihr etwas verbinden.« Doch wo kein Pfarrer, da oft auch keine lebendige Kirchengemeinde.
Gesellschaftlicher Zwang aus der Vergangenheit ist weitgehend weggefallen
Ein weiteres Problem sei auch die starke Individualisierung und der Synkretismus - sich das zusammenzusuchen, was einem in Bezug auf den Glauben »in den Kram passt«. Meier dazu: »Das hat viel mit einer Erwartungshaltung zu tun, Religion konsumierbar machen zu müssen. Doch Glaube und auch Religion ist nicht konsumierbar und jede Religion ist ein geschlossenes System. Zudem muss man sich auch auf Gott einlassen können und eine Beziehung zu ihm entwickeln.« Doch das sei in der heutigen Zeit, die immer mehr auf Genuss und Schnelllebigkeit ausgerichtet ist, immer schwieriger.
Zudem bestünde auch kein so großer gesellschaftlicher Zwang wie früher, Teil einer Kirchengemeinde zu sein und am Gemeindeleben teilzunehmen. »Diese kulturelle Tradition gerät dadurch immer mehr ins Vergessen«, sagt der Angestellte der EKHN. Zudem sei das Gemeindeleben für viele Menschen heutzutage zu verbindlich, zu intim. »Auch das hat etwas mit Individualisierung zu tun. Und das Problem kennen auch die Vereine. Keiner möchte sich mehr in verbindliche Ehrenamtsstrukturen einbringen.«
Evangelische Kirche ist gezwungen, sich zukünftig anders aufzustellen
Somit lasse sich die schrumpfende Mitgliederzahl nicht in Beziehung zu den Missbrauchs- oder finanziellen Skandalen, die bei vielen (ehemaligen) Mitgliedern der katholischen Kirche das Fass zum Überlaufen bringe, setzen. Trotzdem bleibe der evangelischen Kirche wie auch der katholischen nichts anderes übrig, als Zukunftsüberlegungen auf Basis dieser Fakten anzustellen. Ein Teil davon sei, wie man den überschüssigen Gebäudebestand reduziere oder ein gemeinschaftliches Nutzungskonzept zusammen mit dem Gemeinwesen oder den Kommunen entwickeln kann.
Allerdings sieht Meier in dieser Entwicklung auch eine große Chance für die Kirche: »Auf diese Weise kann Glaube wieder mehr in die Zivilgesellschaft transportiert werden. Denn die Erfahrung hat gezeigt, dass wir auf diese Weise viel besser darstellen können, wie man als Christ lebt und welches Handeln daraus erwächst. Das Christsein wird auf diese Weise wieder sichtbar und zeigt, was wir denken und fühlen.« Als Kirche wieder mehr aus dem Schneckenhaus hervorzukommen. Diesen Umstand habe auch der Kirchenpräsident, Dr. Volker Jung, besonders hervorgehoben: »Es muss öffentlich erkennbar sein, was Christen glauben und welche Konsequenzen sie daraus für ihr Tun ziehen.« Darum sei es wichtig, auch an ungewöhnlichen Orten von Gott zu reden, aus der Gemeinde in die Welt herauszutreten, wie beispielsweise über eine Radioandacht oder über das Medium Zeitung.
Neue und kreative Wege beschreiten, um weiterhin relevant zu bleiben
In diesem Zusammenhang spielt auch gerade die jüngere Generation eine Rolle. Je weniger der Glaube in den Familien weitergegeben werde, desto wichtiger sei es, jungen Menschen darzulegen, was Glaube bedeute und für das Zusammenleben leisten könne. In der Kirche könnten sich Menschen aus unterschiedlichsten Gesellschaftsschichten treffen und austauschen - ein Weg, um soziale Blasenbildung zu vermeiden. »Doch gerade bei jungen Menschen ist die Situation oft schwierig. Häufig reißt der Kontakt nach der Konfirmation ab«, bekennt der Pressesprecher. Viele zögen von zu Hause aus, um ein Studium oder eine Ausbildung zu beginnen, der Kontakt zur Heimatgemeinde schlafe ein. Lebensziele definierten sich neu, die wesentlichen Themen drehten sich um den Job. »Erst später finden diese Leute dann wieder zur Kirche zurück«, beschreibt Meier eine typische Entwicklung.
Und so müsse die evangelische Kirche in Zukunft mit geringeren finanziellen Mitteln neue, kreative Wege beschreiten, um sich ins Gedächtnis zu rufen. »Beispielsweise die EKHN-Aktion »Von Gott reden an ungewöhnlichen Orten«. Auf Flohmärkten, in Cafés oder Raststätten geben Kirchenmitarbeiter Unbekannten einen Kaffee aus und hören ihnen zu, erklärt der Pressereferent - mit bisweilen erstaunlichen Ergebnissen. Doch das ist nur ein Weg. Viele weitere müssen folgen.
Eines steht für ihn jedoch fest: »Wir als protestantische Kirche stehen unter dem Druck, uns selbst zu reformieren und zu erneuern. Aber diese Tradition ist uns als Protestanten ja bereits historisch in die Wiege gelegt, das kennen wir also. Denn so sind wir entstanden«, sagt Meier - und grinst dabei optimistisch.
Der Mitgliederschwung der Evangelischen Kirche in Zahlen
Auch wenn sich Kirche nicht nur auf Statistiken reduzieren lassen will, so lohnt sich doch ein Blick auf eine Auswertung der Evangelischen Kirche Hessen Nassau (EKHN), die 40 Jahre in Zahlen zusammenfasst: Die Anzahl der Austritte schwankt: Waren es im Jahr 2005 346 Personen, die ausgetreten sind, so liegen die Zahlen seit 2015 nie unter 630 Personen pro Jahr. Im Jahr 2018 sind 704 Personen ausgetreten, im Jahr 2019 839 und im Jahr 2020 schließlich 726.
Auffällig ist auch die Zahl der Kindertaufen, die seit den 1990er Jahren stetig abnimmt. Waren es 1993 noch 760 Kinder, so zeigt sich im Jahr 2020 ein Tiefpunkt mit 131 Taufen - ein Rückgang gegenüber 2019 von 49 Prozent. Dabei spielt auch Corona eine Rolle - viele Taufen wie auch Hochzeiten wurden pandemiebedingt verschoben.