Themenwoche Forensik: "Jeder Kontakt hinterlässt eine Spur"
Sechs Volontäre und Jungredakteure unserer Zeitungsgruppe haben sich deshalb mit den Möglichkeiten der Forensik, der Wissenschaft der Spurensicherung und -auswertung, beschäftigt.
Von Harun Atmaca
Symbolfoto: Eisenhans/stock.adobe.com
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REGION - 18 Jahre lang war unklar, wer die achtjährige Johanna Bohnacker aus der Wetterau missbraucht und getötet hat. Erst im Oktober 2017 kamen die Ermittler dem mutmaßlichen Mörder auf die Spur. Dank technischer Fortschritte in der Spurenauswertung konnte auf dem Klebeband, mit dem das Mädchen gefesselt worden war, ein Fingerabdruck sichergestellt werden. Dass nun ein 42-Jähriger vor Gericht steht, feiern viele als einen Erfolg der Forensik. Sechs Volontäre und Jungredakteure unserer Zeitungsgruppe haben sich deshalb mit den Möglichkeiten der Forensik, der Wissenschaft der Spurensicherung und -auswertung, beschäftigt. Sie haben Rechtsmedizinern und Ermittlern über die Schulter geschaut, an Sektionen teilgenommen, mit Blutspuranalysten und Toxikologen gesprochen, DNA-Spezialisten befragt und so einen Einblick in die Welt der stillen Zeugen erhalten. Die Ergebnisse ihrer Recherche präsentieren sie in einer Themenwoche - vom 16. bis zum 21. Juli. Den Anfang macht ein Überblick über die Geschichte der Forensik.
1789 wurde der Brite Edward Culshaw durch einen Kopfschuss kaltblütig ermordet. Die Polizei konnte zwar schon nach kurzer Zeit John Toms als Tatverdächtigen festnehmen, doch die Beweise gegen ihn waren zunächst dünn. Erst als ein Chirurg bei der Untersuchung des Leichnams ein Stück Papier in der Kopfwunde fand, konnte Toms als Mörder überführt werden. Denn damals waren Pistolen Vorderlader, die durch den Lauf mit Schwarzpulver und einer Bleikugel geladen und anschließend mit einem Pfropfen - einem Stück Baumwolle oder einem Papierfetzen - abgedichtet wurden. Bei dem in der Kopfwunde gefundenen Papierstück handelte es sich um die abgerissene Ecke eines Flugblattes. Tatsächlich wurde bei der Durchsuchung des Tatverdächtigen der Rest des Flyers gefunden - und Toms später wegen Mordes verurteilt. Der Fall von Edward Culshaw gilt als einer der ersten Kriminalfälle in Europa, der allein anhand von Beweismaterial aufgeklärt wurde. Bis dahin hatten Gerichte ihre Urteile oftmals nur auf Grundlage von Zeugenaussagen, Mutmaßungen oder von - häufig auch unter Anwendung von Folter - erzwungenen Geständnissen gesprochen.
Bemühungen, mit objektiven Beweismitteln Täter zu überführen, gibt es schon lange. Schon 1247 erstellte der chinesische Arzt Song Ci ein Handbuch für Leichenbeschauer mit dem Titel "Aufzeichnungen zur Tilgung von Ungerechtigkeit". Darin beschreibt er auch das erste überlieferte Beispiel für forensische Entomologie (Insektenkunde). Demnach wurde ein Mann niedergestochen am Straßenrand aufgefunden. Der Leichenbeschauer untersuchte die Wunde, testete verschiedene Klingen an einem Kuhkadaver und kam schließlich zu dem Schluss, dass die Wunde dem Opfer mit einer Sichel beigebracht worden sein musste. Daraufhin ließ er alle Männer in der Umgebung in einer Reihe aufstellen, mit ihren Sicheln zu ihren Füßen. Keines der Erntewerkzeuge wies sichtbare Blutspuren auf, jedoch lockte eine Sichel Fliegen an, da sich mikroskopischen Blutreste auf ihr befanden. Mit dem Mordvorwurf konfrontiert, gestand der Mann.
TÖTUNGSDELIKTE IN HESSEN SEIT 1998
27 vollendete und 49 versuchte Morde gab es allein letztes Jahr in Hessen, die Gesamtzahl der Totschlagsdelikte und Tötungen auf Verlangen (die Versuche miteinberechnet) beläuft sich sogar auf 202. Zwar können in der Regel über 90 Prozent der Fälle Tatverdächtige ermittelt werden, eine Aufklärungsquote von 100 Prozent gelingt der Polizei aber nur selten, wie auch die Diskrepanz zwischen den dünnen Linien (erfasste Fälle) und den gleichfarbigen dicken Linien (ermittelte Tatverdächtige) in der unteren Grafik zeigt. Viele Täter bleiben auf freiem Fuß, weil die Ermittler an die Grenzen ihrer Möglichkeiten stoßen. Mit der ständigen Weiterentwicklung der forensischen Methoden können manche dieser Fälle oft nach Jahrzehnten endlich aufgeklärt werden. Jene, die nicht aufgeklärt werden können, die sogenannten "Cold Cases", werden dennoch nie vergessen. Rund 100 Altfälle bearbeitet das Hessische Landeskriminalamt aktuell. Denn Mord verjährt nicht.
Teil I: Meilensteine der Forensik - Evolution der Spurensuche
Teil V: Genetischer Fingerabdruck - Verräterisches Erbgut
Teil VI: Verbrechensaufklärung - individuelle Teamarbeit
Kleine Puzzlestücke
Auch wenn sich der Fall vor mehr als 770 Jahren ereignete und einen Meilenstein in der Geschichte der Forensik darstellt, Ermittler und Wissenschaftler begannen erst im 19. Jahrhundert verstärkt, forensische Methoden für die objektive Beweisführung zu entwickeln. Der rasante Fortschritt in der Forensik in dieser Zeit spiegelt sich auch in der Literatur wieder. Im 19. Jahrhundert erscheinen die ersten Detektivgeschichten, angefangen bei Edgar Allan Poes Kurzgeschichten wie "Die Morde in der Rue Morgue", die als Vorläufer des Genres gilt, über den von Arthur Conan Doyle erschaffenen Meisterdetektiven Sherlock Holmes bis hin zu den Kriminalromanen von Agatha Christie.
Ein großer Liebhaber der Sherlock Holmes Geschichten war der französische Mediziner und Jurist Edmond Locard. Als Begründer des weltweit ersten Labors für Ermittlungsarbeit 1910 in Lyon gilt er als ein Pionier der Forensik. Es war Locard, der den simplen Satz formulierte: "Jeder Kontakt hinterlässt eine Spur". Ob Fingerabdrücke, Fasern, Haare, Gegenstände oder Fußspuren, die der Verbrecher am Tatort zurücklässt oder die das Verbrechen am Täter hinterlässt, all das kann dabei helfen, einen Mord aufzuklären. Es sind viele kleine Puzzlestücke, die die Ermittler zusammensetzen müssen, um ein vollständiges Bild über das Verbrechen zu erlangen.
Als ein weiterer Meilenstein der Forensik gilt der Nachweis von Arsen. Denn ab dem 17. Jahrhundert häuften sich Giftmorde in Europa, zum Großteil war dabei Arsenik das Mittel der Wahl. Der Nachweis war schwierig, wenn nicht gar unmöglich. Viele Morde blieben deshalb unentdeckt. Erst als James Marsh 1836 die nach ihm benannte Marshsche Probe entwickelte, mit der zuverlässig Arsen im Körper Verstorbener nachgewiesen werden kann, und 1840 erstmals ein Mensch aufgrund toxikologischer Beweise verurteilt wurde, nahm die Zahl der Arsenvergiftungen rapide ab. Stattdessen kamen nach und nach andere Gifte in Mode: Nikotin, Alkaloide, Zyankali, nach dem Ersten Weltkrieg das Rattengift Thalliumsulfat, Morphinlösungen oder in den 1940er-Jahren das Pflanzenschutzmittel Parathion. Immer wieder müssen Toxikologen Pionierarbeit leisten. Und noch heute stellt der Nachweis neuer Giftstoffe und Betäubungsmittel eine der zentralen Herausforderungen für die Toxikologie dar. Das sagte auch Prof. Reinhard Dettmeyer, Institutsleiter der Rechtsmedizin in Gießen, bei unseren Recherchen: "Es kommen immer wieder neue synthetische Drogen auf den Markt, wo wir im Bereich der Toxikologie immer etwas hinterher sind, um diese analytisch zu erfassen."
Aber nicht nur in der Toxikologie hat sich einiges getan. Im 19. Jahrhundert entdeckte die Wissenschaft weitere forensische Methoden, die zum Teil heute als überholt gelten: Anfang der 1880er Jahre entwickelt der französische Kriminalist Alphonse Bertillon ein System zur Identifizierung von Personen anhand von Körpermaßen, also ein frühes biometrisches Erkennungsverfahren. Im Februar 1883 gelang die erste Identifizierung eines rückfällig gewordenen Straftäters anhand der nach seinem Erfinder benannten Bertillonage. Da die Methode nicht zu hundert Prozent zuverlässig ist, wurde sie später durch verlässlichere Verfahren wie die Daktyloskopie (Fingerabdruck) abgelöst. Nach dem Brand des Wiener Ringtheaters 1881 wurden Leichen zum ersten Mal anhand von Zahnstellungen identifiziert. Und 1891 gelang es im argentinischen La Plata erstmals, mithilfe von Fingerabdrücken einen Mord aufzuklären. In Europa gelang die Überführung eines Mörders anhand des Fingerabdruckes 1902 zum ersten Mal.
Zufallsentdeckung
Die Weiterentwicklung der instrumentellen Analytik ab den 1950er Jahren ermöglichte Forensikern den schnelleren Nachweis von toxikologischen Stoffen. Moderne Massenspektrometer erleichtern die Arbeit heute erheblich. Für den großen Durchbruch in der Forensik sorgte aber ein Zufallsfund: 1984 entdeckte der britische Genetiker Alec Jeffreys durch Zufall den genetischen Fingerabdruck. Mit den DNA-Profilen eröffnete er Ermittlern bislang ungeahnte Möglichkeiten der Strafverfolgung. 1987 wurde mit Colin Pitchfork, ein britischer Mörder, erstmals ein Mensch aufgrund von DNA-Spuren überführt. In Deutschland wird das Verfahren 1988 als Beweismittel in einem Strafprozess zugelassen. Die Technik entwickelte sich mit den Jahren immer weiter. Während früher etwa Blutspuren in der Größe einer Münze notwendig waren, reichen heute mikroskopisch kleine Mengen. Viele Gerichtsprozesse wurden seit der Entdeckung des genetischen Fingerabdrucks neu aufgerollt. Und dank der steten Weiterentwicklung gelingt es der Polizei oft noch nach Jahrzehnten, Verbrechen aufzuklären und Mörder zu überführen.