OBERREIFENBERG - Es ist die unmittelbare Art des Musikgenusses, die immer mehr Zuschauer in den Kammerkonzertsaal von Hauskonzert Feldberg - den Wohnraum von Esther und Ralf Groh in Oberreifenberg - führt. Am vergangenen Samstag kam neben dem intimen Rahmen, professionell daherkommender Organisation und dem äußerst gelungenen Genuss mit allen Sinnen auch noch eine fast vergessene Kunst der historischen Aufführungspraxis hinzu: das Extempore!
Michael Gees am Klavier ist nicht nur ein international renommierter Liedbegleiter, sondern auch einer der spannendsten Pianisten, Komponisten und Musikkünstler unserer Tage. Schon als Kind gefeiert als "westfälischer Mozart", spielt er in seinen Solo-Recitals jedes Stück aus seiner Sicht als Komponist, ganz so, wie es eben auch zu Zeiten Bachs und Mendelssohns üblich war. Heute sind von dieser Praxis nur einige wenige notierte Werke überliefert, welche große Komponisten und Solisten über Themen und ganze Stücke anderer Komponisten aufgeschrieben haben. Ansonsten hat sich der normative, notengetreue Blick der Musikindustrie auch im Hörerlebnis des Publikums fest verankert. Aus dieser bequemen Sicht riss Michael Gees die wieder sehr zahlreichen Zuhörer bei Hauskonzert Feldberg mit spielerischer Freude: "alle Titel mit Extempore!" hieß es schon in der Überschrift zum Programm, also Improvisation, Stegreifspiel - mitreißend ausgehend von den Noten des Originals.
Immer im Wechsel der Komponisten ging es los mit Johann Sebastian Bach, Partita in B-Dur, BWV 825: auf Introduction und Prélude folgen sechs tänzerische Sätze. Die ersten Takte erklangen ganz intim, vertraut in der bekannten ebenso reduzierten wie kunstvoll gestalteten Art Bachs. Michael Gees spielte sie ganz ohne den heute oft zu hörenden virtuosen Pomp oder mechanischen Drive, sondern suchte das Sinnliche, differenzierte das Klangbild mit Anschlag, Dämpfern und Una Corda auf dem extra nach seinen Wünschen vorbereiteten Bösendorfer Konzertflügel. Schon in diesen ersten Minuten entfaltete sich der besondere Zauber seines Spiels. Nach einiger Zeit wurde der Klang reicher, voluminöser, ohne sich gänzlich vom Original zu lösen. Vorsichtig führte Michael Gees das Publikum an seine Sicht der Bachschen Werke heran und vorsichtig fasste er auch selbst Vertrauen zu seinem Publikum. Es war der Beginn eines langsamen zweistündigen Crescendos der Extempores.
Nahtlos schlossen sich drei Stücke von Felix Mendelssohn-Bartholdy aus den Liedern ohne Worte Op. 30 und Op. 67 an. Weniger bekannt als die Melodien Bachs erklingen auch diese zunächst jeweils sehr gesanglich in der Originalnotation, bevor sich auch hier die Musik zunächst unmerklich verdichtet, mit neuen klanglichen Perspektiven und rhythmischen Freiheiten versehen wird. Michael Gees vermeidet es dabei penibel, einfach nur zu ergänzen, bis eine bombastische Orgie entstünde. Immer wieder reduziert er auch bis zu überraschenden Pausen, die das Original akzentuieren, ohne es zu verleugnen.
Schon als Fünfjähriger fragte sich Michael Gees, ob man die Stücke aus dem Notenbuch für Anna Magdalena Bach nicht anreichern sollte. Statt simpel Ober- und Unterlinie mit ein paar Akkorden zu spielen, auch die anderen Finger zu nutzen, das Instrument in seiner ganzen Klangvielfalt einzubringen. Es wurde ihm verboten. Aber er schwor sich, dies später im Leben nachzuholen und auch in Oberreifenberg war es jetzt soweit. Nun hatte sich die persönliche Beziehung zum Publikum etabliert, Vertrauen war entstanden, die Inspiration konnte sich ihren Weg bahnen. Mit fünf Stücken dieser Sammlung führte Michael Gees die Zuschauer durch ausgiebige Extempores mit mutigen wie berauschenden freien Variationen in die Pause.
Lieder von Mendelssohn Bartholdy nahmen diesen Faden nach der Pause wieder auf. Das formellere Präludium und Fuge cis-Moll, BWV 849 wurde wie im Barock üblich zunächst liebevoll ausgestaltet und verziert, um dann in einem waren Rausch aus aller Kenntnis der Musikgeschichte bis ins 20. Jahrhundert weiter entwickelt zu werden. Die Fülle der Klänge und Rhythmen, der Emotionen und Spiritualität zu beschreiben, würde diese Zeitungsseite nicht reichen. Nur mit einem kurzen Umblättern, ohne Applaus zuzulassen, brachte Michael Gees die Zuhörer mit einem letzten Lied ohne Worte wieder in die Stille zurück mit der alles begann.
In der offiziellen Zugabe - wieder Bach und Mendelssohn - gab es noch einmal eine Reprise des Abends, nun mit noch orgiastischerem Extempore. "Also gut - aber nur ganz kurz" wusste er dies überraschend nochmals zu steigern: mit einer Konzertmediation - nur inspiriert vom Publikum, dem Raum, der Atmosphäre, versammelten sich Gefühle und Gedanken aller Anwesenden in der in diesem Moment entstehenden Musik Michael Gees'. So nah kommen sich Zuhörer, Musiker und Musik sonst nie. Dieser Abend "ex tempore" - aus der Zeit - war eine musikalische Offenbarung, ein Spaß für den Musiker und ein Genuss für alle Anwesenden.