Usingen: 20 Prozent von uns werden im Alter dement

Hildegard von Lonzki, Matthias Kantenwein, Meinhard Schmidt-Degenhard, Prof. Dr. Reimer Gronemeyer und Prof. Dr. Gunter Eckert diskutieren. Foto: Schwager
USINGEN - "Was bleibt, wenn nichts mehr bleibt? Es bleibt ein Mensch." Das sagte Moderator Meinhard Schmidt-Degenhard bei der Vortragsveranstaltung des Lions Clubs Usingen-Saalburg zum Thema Alzheimer. Und stellte den Hauptvortragenden Prof. Dr. Reimer Gronemeyer vor. Gleichzeitig verdeutliche dieser Satz, worum es Gronemeyer geht; er hat das Buch mit dem provokanten Titel "Das vierte Lebensalter - Alzheimer ist keine Krankheit" geschrieben: Es gehe ihm nicht um die medizinischen Hintergründe oder um Therapieempfehlungen, sondern wie wir, die Gesellschaft, mit Dementen umgehen, die uns - dies sei vorweg genommen - "einen Spiegel vorhalten".
Doch zunächst kam nach der Begrüßung durch Präsident Prof. Dr. Gunter Eckert als Gast Hildegard von Lonzki zu Wort, die auf anrührende Weise von den geistigen Veränderungen ihres Vaters und seiner Pflege berichtete: "Das ging mit Ende 60 schleichend los. Mein Vater wurde vergesslich, aber auch ungehalten, wenn er dies wahrnahm. Im Zusammenleben mit meiner Mutter wurde er immer öfter zornig - das steigerte sich - wusste zeitweise nicht, wo er war, und seine Aggressivität führte am Ende auch zu körperlichen Angriffen."
Wie kann man es in der Verzweiflung schaffen, liebevoll mit seinen Angehörigen umzugehen? Was ist als Verhaltensänderung in der Gesellschaft notwendig, um gemeinsam mit einem Phänomen zu leben, das nicht neu und das medizinisch nicht behandelbar ist? Das ist das zentrale Anliegen von Gronemeyer, der in Theologie und Soziologie promoviert hat und seit Jahrzehnten über Demenzen forscht. So erklärt sich auch der provokante Untertitel seines Buches: "Schon immer wusste man, dass alte Menschen manchmal kindisch und wunderlich werden - das gehörte zum Leben aber einfach dazu!" Heute dagegen lasse die Gesellschaft Demente und ihre Angehörigen im Stich. Auch die veränderten Familien- und Nachbarschaftsverhältnisse fallen meistens als Unterstützung aus, die Betroffenen sind mit ihrem Problem alleine und leiden enorm. Als völlig absurd bezeichnete Gronemeyer die in letzter Zeit stark angestiegene Anzahl von Diagnosen, "obwohl wir keine therapeutischen Möglichkeiten haben. Wozu soll das dann gut sein?"
Als Teil der "Conditione Humana" bezeichnete der Vortragende die "Nicht-Krankheit" Alzheimer, die 60 Prozent aller Demenzerkrankungen ausmache (Demenz bezeichnet ein Syndrom: eine Kombination von mehreren Symptomen psychischer Veränderungen - Anm.d.Red.). "Alzheimer ist keim medizinisches Problem, sondern ein Soziales! In gewisser Weise wird die Diagnose nicht nur dem Betroffenen, sondern auch uns, der Gesellschaft gestellt", so Gronemeyer. Diese Menschen hielten uns quasi den Spiegel vor und wir seien in einem Werte-Klima von Leistungsfähigkeit, Konkurrenz und Geld oft unfähig, mit unserem Erschrecken, unserer eigenen Angst richtig umzugehen. Zurzeit gebe es nichts, was so dramatisch wachse wie der Apparat der Demenzversorgung, der dem Fehlansatz folge, alles sei technisch/medizinisch machbar und irgendwie "in den Griff zu bekommen". Gronemeyer unterstellt ehrenhafte Absichten: "Wir wollen es gut machen, aber wir scheitern. Denn die Dementen stellen uns Fragen. Und wir haben nicht die richtigen Antworten." Insbesondere die jüngere Generation sei zu einer Gesellschaft der Löschtaste, der kollektiven Vergesslichkeit geworden, das beobachte er bei seinen Studenten. "Es besteht auch die Gefahr, Demente nur noch als Objekte der Versorgung wahrzunehmen, dabei sind sie doch unsere Zwillingsgeschwister."
Bei diesen Worten richtete Gronemeyer den Blick ins Publikum: "20 Prozent von Ihnen werden dement werden." Und das folgende Gelächter klang etwas gequält. Eine "wärmende Gesellschaft" gegen die Vereinzelung forderte er ein.
Matthias Kantenwein, Leiter der Diakoniestation Friedrichsdorf, stellt noch das Betreuungsprojekt EPAF vor. Dabei werden zur Entlastung der pflegenden Angehörigen Demente regelmäßig abgeholt und mit Sport, Malerei, Singen und Tanzen unterhalten und beschäftigt.