Gratwanderung zwischen Bevormundung und Versorgung

Nach häuslichem Unfall einer 91-jährigen Frau übt die Tochter Kritik an Krankenhaus und Hausnotruf des DRK
Weilrod -Die Frage, bis wann ältere Menschen in der Lage sind, über ihre medizinische Versorgung selbst zu entscheiden, wie Vorsorge getroffen werden kann, um Bevormundung von Senioren zu verhindern, ist Alltag im Gesundheitswesen. Eine hundertprozentige Sicherheit allerdings kann es kaum geben, wie ein Fall aus Weilrod belegt.
Anfang Dezember stürzte die 91-jährige Frau L. nachts in ihrem Haus in einem Weilroder Ortsteil. Sie konnte noch den Notrufknopf des Deutschen Roten Kreuzes Bad Homburg betätigen. Nach etwa einer halben Stunde war der Rettungswagen vor Ort bei der krebskranken, allein lebenden Dame. Mit der blutenden Platzwunde am Hinterkopf wurde sie in die Hochtaunusklinik Usingen gebracht. Eine Schwester sah nach ihr, nach einer Weile kam auch ein Arzt, der die Platzwunde versorgte. Sicherheitshalber wurde der Kopf der Dame geröntgt. Da es hier keinen Befund gab, wurde Frau L. in den sehr frühen Morgenstunden mit dem Rettungswagen wieder nach Hause gebracht. Der Rettungsassistent blieb noch bei ihr, bis sie wieder im Bett war.
Allerdings sahen sich weder die Klinik noch das DRK dazu veranlasst, Frau Koch, die Tochter von Frau L., oder den Sohn zu informieren. „Sie ist ja voll geschäftsfähig“ und „so früh am Morgen wollten wir Sie nicht stören“, bekam die Tochter von Frau L. als Begründung zu hören. Denn erst am Morgen nach dem Unfall, als sie wie immer ihre Mutter von Frankfurt aus anrief, hörte sie schon beim ersten Wort, dass etwas mit ihrer Mutter nicht stimmte. „Sie hätte sich ja nachts mit einer Gehirnerschütterung noch übergeben können“, zeigt sich die Tochter gegenüber unserer Zeitung noch heute wütend über die Behandlung ihrer Mutter. Bei einem Anruf im Krankenhaus in Usingen wurde sie an die Patientenreferentin der Hochtaunuskliniken in Bad Homburg verwiesen. Auch dieser Kontakt sei unbefriedigend gewesen, berichtete die Tochter: Ein versprochener Rückruf habe nie stattgefunden. Und auch eine Rückfrage beim Hausnotruf-Service des DRK bezüglich einer Information der Angehörigen habe nur die Antwort gebracht: „Das macht das Krankenhaus.“ Obwohl auf der Internetseite ausdrücklich die Verständigung der Familie genannt werde, deren Kontaktdaten dort auch hinterlegt seien. „Wozu bezahle ich in fünf Jahren 1000 Euro dafür“, ärgert sich Frau Koch, die jetzt für die absehbar letzte Zeit ihrer Mutter in den Hintertaunus gezogen ist, denn ihre Mutter habe sich von dem Sturz nicht mehr wirklich erholt.
Die Schilderung der Begebenheit hat diese Zeitung veranlasst nachzufragen, wie solche Fälle gehandhabt werden. André Seidel, Teamleitung Service-Center & IT beim DRK-Kreisverband Hochtaunus nimmt dazu wie folgt Stellung: „Grundsätzlich möchten wir vorab festhalten: Der Hausnotruf hat in dem geschilderten Fall, trotz der vermeintlichen Lücke der Benachrichtigung an die Bezugsperson, einwandfrei und im vollen Umfang funktioniert. Es hat der Kundin das Leben gerettet und dadurch wurde Schlimmeres vermieden, denn direkt nach dem Sturz konnte sich die Dame über unser Gerät Hilfe holen. Auch konnte unser DRK-Rettungsdienst direkt auf die hinterlegten Schlüssel der Kundin zugreifen, sodass hier eine gar höhere Zeitverzögerung durch Alarmierung der Feuerwehr oder eines Schlüsseldienstes zur Türöffnung vermieden werden konnte. Die Schlüsselhinterlegung, unser Rufbereitschaftsdienst oder die dauerhaft besetzte Leitstelle, das sind unter vielen anderen genau die Kernfaktoren, welche für die genannten 1000 Euro in fünf Jahren stehen.“ Im Übrigen verweist André Seidel auf die Rückmeldung der Angehörigen, wonach es sonst immer funktioniert habe - nur dieses eine Mal nicht. Mehr noch: „Wir sind und waren immer zufrieden.“ Das belege auch die Historie zu der genannten Kundin: „Hier haben wir sechs rettungsdienstliche Einsätze in fünf Jahren zu verbuchen. Die für hoch befundene Wartezeit, zwischen dem Drücken des Notrufes und dem darauffolgenden Eintreffen des Rettungsdienstes (20 Minuten) liegt hier an der Disposition, generell wird in lebensbedrohliche Notfälle und nicht lebensbedrohliche Notfälle unterschieden. Ist es nicht lebensbedrohlich, was durch den mehrfachen Kontakt mit der Kundin während der Notsituation ausgeschlossen werden konnte, handelt es sich um einen sogenannten Notfall ohne, hierbei erhält auch der Rettungswagen keinerlei Sonder- und Wegerechte für die Anfahrt.“
„Sie ist ja voll geschäftsfähig“
Weiter heißt es in der Stellungnahme des Service-Center & IT beim DRK-Kreisverband: „Die Aussage „Sie ist ja voll geschäftsfähig“ kam vermutlich von Seiten der Klinik, ist aber in dem Moment auch zum Teil nachvollziehbar, denn auch mit 91 Jahren ist man noch ein mündiger Mensch. Gegebenenfalls lag hier auch keine gesetzliche Vertretungsvollmacht für den medizinischen Bereich vor. Ein weiterer Grund kann auch die absehbare nur ambulante Behandlung gewesen sein, auf welche die Angehörigen keinen großen Einfluss hätten nehmen können.“
Was die Aussage „so früh am Morgen wollten wir Sie nicht stören“ betrifft, sagt André Seidel: „Hier haben wir die Erfahrung aus Sicht der Kunden gemacht, dass diese aus Respekt gegenüber dem Nachtdienst schon häufig Angst hatten, uns zu wecken, was sie gar nicht müssen, denn auch in der Nacht um 3 Uhr helfen die Kolleginnen und Kollegen mit Herzblut jedem, der uns braucht. Eventuell war dies Gedankengang von Frau L.? Trotz aller Umstände werden wir unsere Prozesse überprüfen, denn die Zufriedenheit der Kunden und eine stetig hohe Qualität ist uns wichtig, daher nehmen wir solche Anfragen immer sehr ernst.“
Ina Demirci, Patientenreferentin Hochtaunus-Kliniken, betont nach Prüfung des genannten Falles: „Die Patientin kam weder mit einer Mitteilung über eine eventuelle Einschränkung ihrer Geschäftsfähigkeit zu uns, noch konnten die behandelnden Ärzte selbst etwas Entsprechendes feststellen. Das Alter alleine kann nicht als Indikator dafür herangezogen werden, dass jemand nicht mehr in der Lage ist, seine eigenen Entscheidungen zu treffen. Die alte Dame war nach Einschätzung der Ärzte durchaus noch in der Lage zu entscheiden, ob sie Angehörige informieren möchte, ob sie das Krankenhaus nach Versorgung der Sturzfolgen direkt verlassen kann und ob Sie zu Hause zurechtkommt. Wenn die Tochter der Ansicht ist, dass die Mutter zu Hause nicht mehr alleine leben sollte, dann hätte sie bereits in der Vergangenheit einen Arzt hinzuziehen sollen und zusammen mit der Mutter eine Lösung besprechen müssen.“
„Maßgeblich ist der Wille des Patienten“
Es sei gerade der Sinn des Betreuungsrechts, den Menschen, die noch im vollen Besitz ihrer geistigen Kräfte sind, weiterhin ein selbstbestimmtes Leben zuzubilligen. „Sicherlich ist es oftmals nicht so leicht für einen Angehörigen, Mutter oder Vater noch zu Hause und nicht in einer Pflegeeinrichtung zu sehen, obwohl zu Hause von ihnen alles nicht mehr ganz so gut bewältigt werden kann. Es kann aber nicht von einer Klinik verlangt werden, den Vorstellungen der Angehörigen hier zu entsprechen. Maßgeblich ist der Wille des Patienten, auch wenn er bereits alt ist. Diesen akzeptieren wir.“ Die Tochter habe sich telefonisch gemeldet und ihre Bedenken mitgeteilt. Derartige Beschwerden würden sehr ernst genommen, intern aufgearbeitet und mit den Betroffenen besprochen. Das sei auch im aktuellen Fall geschehen. VON SABINE NEUGEBAUER