Leitartikel von Stefan Schröder zur Europawahl: Europas Seele
Bis zur Wahl am 26. Mai blicken die Chefredakteure der VRM einmal wöchentlich ganz grundsätzlich auf Europa - heute von Stefan Schröder, Chefredakteur des Wiesbadener Kurier.
Von Stefan Schröder
Chefredakteur Wiesbadener Kurier
Stefan Schröder. Foto: Harald Kaster
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In Brüssel haben sich ungefähr 1000 Journalisten akkreditiert. Mehr als 11_000 Lobbyisten zählt das so genannte Transparenzregister, so viele wie sonst nur in Washington. Für eine verfasste Öffentlichkeit müsste das doch ausreichen. Tatsächlich lautet die ernüchternde Erkenntnis: „Es gibt kein europäisches Staatsvolk, keine europäische Öffentlichkeit und keine europäischen Parteien, die diesen Namen verdienten.“ So drückt es der ehemalige Verfassungsrichter Dieter Grimm aus. Da helfen keine gemeinsame Flagge, keine Hymne und kein Parlament.
Täglich laden Beamte und Politiker in der EU-Hauptstadt zu Pressekonferenzen, Briefings, Hintergrundgesprächen – es rauscht und brodelt vor Gerüchten und Ankündigungen. Doch ähnlich wie beim Turmbau zu Babel verstehen viele einander nicht, und was in jedem einzelnen der 28 EU-Länder ankommt, ist oft nur noch ein Rinnsal. Daran mag die babylonische Sprachverwirrung Schuld tragen. Von Bulgarisch bis Ungarisch sind 23 Amtssprachen registriert. Aber wer verstehen will, der kann es auch. Das Hemmnis besteht nicht in der Sprachbarriere, die wir mit Technologie ohnehin in absehbarer Zeit überwinden werden. Es fehlt den 28 Teilen der Union an Nachrichten, die alle angehen, an gemeinsamen Emotionen; vor allem, um es zeitgenössisch auszudrücken, fehlt es am Narrativ.
Größte Errungenschaften sind selbstverständlich
Ausgerechnet die größten Errungenschaften sind zu Selbstverständlichkeiten herabgewürdigt: kein Krieg, keine Grenze, Währungsunion oder Zollfreiheit. Eine ganze nachgewachsene Generation kennt nichts anderes. Angela Merkel, der man Pragmatismus und Opportunismus unterstellt, hat dazu Entscheidendes gesagt: „Wir müssen Europas Seele finden. Denn eigentlich brauchen wir sie Europa nicht zu geben, weil sie schon bei uns ist. Es gibt einen einfachen Weg zur Seele Europas, zur Toleranz: Man muss auch mit den Augen des anderen sehen.“
Das gelingt uns trotz Freundschaftsverträgen, transnationaler Eheschließungen und gemeinsamer Kabinettssitzungen nicht einmal mit den unmittelbaren Nachbarn, beispielsweise den Franzosen. Die in Brüssel stationierten Journalisten erfüllen einen Auftrag. Sie beantworten die Frage: Was bedeutet diese Entscheidung der Zentrale für uns? Mit „uns“ ist mal Dänemark, mal Polen und im dritten Fall Deutschland gemeint. Je nachdem welches Medium aus welcher Nation der Kollege in Brüssel vertritt.
Internationale Medienportale bestenfalls unbedeutend
Versuche, internationale Medienportale oder -kanäle zu installieren, sind gescheitert oder unbedeutend. „The European“, als Zeitung auf Papier gegründet, erscheint als Debattenmedium noch ab und zu gedruckt, das Internetportal erfreut sich als Debattenforum überschaubarer Beliebtheit. Der Fernsehsender Euronews liefert jede Menge Videos und Filme, das beliebteste Programm heißt „No Comment“. Jede angeschlossene Nation kann sich die Texte zu den laufenden Bildern selbst einsprechen – einschließlich der Russen und vor allem mit dem eigenen nationalen Filter. Nachdem die EU dem Sender in Lyon mehr als 100 Millionen Euro zugesteckt hatte, erwarb vor wenigen Jahren ein ägyptischer Mogul die Mehrheit. „Politico“ nennt sich ein Angebot, das Insider gerne nutzen, um sich von klugen Kollegen Hintergründe der Europa-Politik erklären zu lassen. Fürs breite Publikum sind diese Dienste ungeeignet. Selbstverständlich fordern Initiativen ein gemeinsames öffentlich-rechtliches Sendeprogramm für das EU-Gebiet. Aber die Praxis, abgestimmt zwischen Kommission, Parlament und Europäischem Rat, möchte sich keiner vorstellen.
Vielleicht müssen wir uns selbst einfach nur Zeit geben, bis zusammenwächst, was zusammengehört, und den öffentlichen Zusammenhalt auch mal der Unterhaltung überlassen. Auf einige Treiber dürfen wir dabei hoffen. Die Fußball-Champions-League und der Eurovision Song Contest jedenfalls lassen schon jetzt die Einschaltquoten auf Rekordhöhen steigen.