Die EU will den Westbalkan umschmeicheln – doch Scholz muss einen „Dissens“ zur Putin-Frage einräumen

China und Russland strecken die Fühler gen Balkan aus. Die EU will gegenhalten – doch beim großen Westbalkan-Gipfel knirscht es auch. Just beim Thema Russland.
Tirana – Wie nötig sie Verbündete hat, hat die EU rund um den Ukraine-Krieg zu spüren bekommen. Und wie weit China seine „Neue Seidenstraße“ bereits nach Europa ausgerollt hat, ist etwa in Montenegro in skurriler Form zu besichtigen. Nun buhlt Brüssel in Südosteuropa um stärkere Bande – auch am Dienstag (6. November) beim Westbalkan-Gipfel in der albanischen Hauptstadt Tirana.
Milliardenversprechen hatte die Europäische Union dabei im Gepäck. Konkrete Zusagen an die sechs Staaten in ihrem Streben in die EU blieben allerdings aus. Kanzler Olaf Scholz (SPD) sendete nach den Gesprächen auch eine Art Warnung: „Wir erwarten von den Beitrittsländern, dass sie sich an der Sanktionspolitik der Europäischen Union ausrichten.“ Es gebe dazu weiter einen „Dissens“ mit Serbien, sagte Scholz. Er sprach aber auch von einem „großen Zeichen der Hoffnung“. Scholz hatte zuletzt eine Charme-Offensive gen Balkan vorangetrieben. Immerhin verurteilte die Gipfel-Erklärung nun den russischen Angriffskrieg.
Die Staats- und Regierungschefs der EU bekräftigten bei dem Gipfel auch „ihr uneingeschränktes und eindeutiges Bekenntnis zur EU-Beitrittsperspektive“ für Albanien, Serbien, Nordmazedonien, Bosnien-Herzegowina, Montenegro und das Kosovo. Vorerst gab es nur kleine Appetit-Happen – etwa einen Vertrag über den Wegfall der Roaming-Gebühren für Handytelefonate zwischen den Staaten und der EU oder verbesserten Studenten-Austausch.
Alle sechs Balkanstaaten streben eine Mitgliedschaft in der EU an. Die Verfahren sind aber unterschiedlich weit fortgeschritten. In den vergangenen Jahren geriet die Annäherung auch wegen EU-interner Streitigkeiten ins Stocken. Der Frust der Balkan-Staten ist teils groß - zumal die Ukraine und Moldau infolge des russischen Angriffskriegs im Juni im Rekordtempo zu Beitrittskandidaten gemacht wurden.
EU buhlt um Westbalkan – von der Leyens appelliert: Auf welcher Seite wollt ihr stehen?
Brisant ist die Lage auch, weil etwa Serbien immer wieder an historische Bande zu Russland anknüpft – Ukraine-Krieg hin oder her. Das Land hat sich bislang nicht den EU-Sanktionen gegen Russland angeschlossen. „Ihr müsst euch entscheiden, auf welcher Seite ihr steht“, appellierte Ursula von der Leyen in Tirana. „Auf der Seite der Demokratie, das ist die Europäische Union, euer Freund und Partner. Oder wollt ihr einen anderen Weg nehmen?“
Russland und China versuchten zwar, Einfluss in der Region zu nehmen. Es sei jedoch die EU, die größter Investor und engster Partner des Westbalkans sei, betonte die deutsche Kommissionspräsidentin. Im Ukraine-Krieg stelle sich die Frage, ob Autokratien und das Recht des Stärkeren sich durchsetzten oder Demokratie und Rechtsstaat, sagte von der Leyen. „Dieses Ringen merkt man auch im Westbalkan.“
Der serbische Präsident Aleksandar Vucic gab sich hingegen selbstbewusst. „Wir kennen unsere Verpflichtungen gegenüber der EU, aber wir sind ein unabhängiges Land“, sagte der Staatschef. „Wir schützen unsere nationalen Interessen.“
EU droht wegen zunehmender Migration über die Balkanroute
Wichtig für die EU ist auch das Thema Migration. Zuletzt waren wieder deutlich mehr illegale Grenzübertritte über den Westbalkan in die EU gezählt worden - allein im Oktober rund 22.300; fast dreimal so viele wie im Vorjahreszeitraum. Die EU fordert von den Balkanstaaten deshalb, ihre Visa-Politik an die der Europäischen Union anzugleichen.
Bislang können etwa Menschen aus Indien visumfrei nach Serbien gelangen, von wo aus sie zuletzt vermehrt in die EU weiterreisten und dort einen Asylantrag stellten. Für Reisende aus Tunesien und Burundi hob Serbien die Visumsfreiheit bereits auf, Indien soll zum kommenden Jahr folgen. Doch die EU erwartet von Serbien und den anderen Ländern weitere Anstrengungen – zum Beispiel im Kampf gegen Schmugglerbanden. Für den Fall, dass die Länder ihre Visapolitik nicht anpassen, wurde sogar mit einem Aussetzen der aktuellen Regelungen zur Visafreiheit mit der EU gedroht.
Krisenherd in der EU-Nachbarschaft: Neuer Vorschlag für Serbien und den Kosovo
Druck macht die EU auch rund um das spannungsgeladene Verhältnis zwischen Serbien und dem Kosovo. Brüssel legte zum Gipfel einen neuen Vorschlag zur Normalisierung der Beziehungen vor. Er sieht nach Angaben von Diplomaten vor, dass Serbien die Unabhängigkeit des Kosovos zwar nicht anerkennen muss, aber akzeptieren soll. Konkret soll das insbesondere bedeuten, dass Belgrad nicht mehr länger die Mitgliedschaft des Kosovos in internationalen Organisationen blockiert. Serbien könnte im Gegenzug erhebliche finanzielle und wirtschaftliche Hilfe der EU bekommen.
Die EU versucht seit Jahren, zur Klärung des Verhältnisses zwischen den beiden Nachbarn beizutragen. Das heute fast ausschließlich von Albanern bewohnte Kosovo hatte sich 1999 mit Nato-Hilfe von Serbien abgespalten und 2008 für unabhängig erklärt. Mehr als hundert Länder, darunter Deutschland, erkennen die Unabhängigkeit an. Andere wie Serbien, Russland und China – aber auch fünf EU-Länder – nicht.
EU braucht Verbündete: Geld soll es richten – auch am Westbalkan
Überhaupt dient vor allem Geld als Anreiz für den steinigen Weg der EU-Annäherung. Eine bereits gestartete Wirtschafts- und Investitionsoffensive soll in den kommenden Jahren bis zu neun Milliarden Euro an Zuschüssen bereitstellen. Diese sollen dann zusätzliche 20 Milliarden Euro an Investitionen mobilisieren. Zuletzt gab es noch einmal eine Milliarde Euro zur Abmilderung der Folgen des russischen Kriegs gegen die Ukraine. Das Geld kann zum Beispiel Familien und Unternehmen zugute kommen, die unter den stark gestiegenen Energiepreisen leiden.
Kein Entgegenkommen können die Länder hingegen im EU-Beitrittsprozess erwarten. „Das ist ein leistungsbasierter Prozess“, sagte ein ranghoher EU-Beamter am Dienstag. Wenn er noch mehr als zehn Jahre oder mehr dauere, sei das halt so. Niemand werde aufgenommen werden, ohne die Bedingungen zu erfüllen. „Wann wir jetzt EU-Mitglied werden, ist sekundär“, sagte Rama selbst nach dem Gipfel. Klar sei, dass Albanien Teil der EU werden werde.
Für Albanien war es die bisher größte politische Veranstaltung als Gastgeber. Die Bevölkerung der von dynamischer Bautätigkeit geprägten Hauptstadt erfüllte dies mit einem gewissen Stolz. Der sozialistische Ministerpräsident Edi Rama kann damit nach Ansicht von Beobachtern auch innenpolitisch punkten. Für die über 30 Delegationen sperrten Sicherheitskräfte das Stadtzentrum mit Konferenzort und Regierungsgebäuden hermetisch ab. Das Land gilt übrigens als ein möglicher Profiteur des Ringens von China und EU um Einfluss. (dpa/fn)