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„Die größte Bedrohung für Russland ist nicht die Nato-Erweiterung, sondern der EU-Beitritt der Ukraine“

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Von: Anna-Katharina Ahnefeld

EU-Beitrittskandidat Ukraine: Im Russland-Ukraine-Krieg kämpfen die Menschen gegen das imperialistische Russland – und für den Schulterschluss mit Europa.
EU-Beitrittskandidat Ukraine: Im Krieg kämpfen die Menschen gegen das imperialistische Russland – und für den Schulterschluss mit Europa. © Wiktor Dabkowski/Imago

Russland und Wladimir Putin übersehen die Gefahr der Ukraine-Bindung an die EU, glaubt Politik-Professorin Börzel. Doch auch Europa droht neben dem Krieg ein weiterer Brandherd.

Berlin – Seit dem 23. Juni ist klar: Die Ukraine ist auf der Fahrbahn in Richtung Europäische Union. Klar ist auch: Eine Überholspur ist es nicht. Das Land befindet sich aktuell im Krieg, der Ausgang der russischen Invasion ist weiterhin ungewiss. Menschen kämpfen, werden vergewaltigt, gefoltert und sterben. Noch eines ist klar: Vor dem 24. Februar war Kiew von einer EU-Beitrittskandidatur weit entfernt. Das Land krankte an Korruption, einflussreichen Oligarchen und einer schwachen Rechtsstaatlichkeit. All das muss auf der Reise nach Brüssel zuerst beseitigt werden. Die Ukraine hat eine lange Liste an „Hausaufgaben“ erhalten, wie es aus EU-Kreisen hieß.

Hausaufgaben, Reformen und ein langer Beitrittsprozess, das klingt vor allem nach Bürokratie. Dennoch werden Politiker:innen nicht müde zu betonen, wie „historisch“ die Entscheidung des Europäischen Rates sei, der Ukraine den Kandidatenstatus zu verleihen. Und das in einer nie dagewesenen Geschwindigkeit. Ist die Europäische Union der Ukraine in der schwersten Stunde also beinahe selbstlos entgegengeeilt? Nein, findet Professorin Tanja Börzel von der Freien Universität Berlin im Gespräch mit FR.de von IPPEN.MEDIA. Die europäische Integration des Landes sei auch im Interesse der EU, meint sie und geht noch weiter: „Die größte Bedrohung für Russland ist nicht die Nato-Erweiterung, sondern die EU-Erweiterung.“

Ukraine-Beitritt als Chance für die Europäische Union im Russland-Konflikt

Für Börzel könnte die Ukraine eines Tages eine zentrale Rolle zwischen West- und Osteuropa einnehmen – vorausgesetzt, das Land überlebt. Denn als fünftgrößter EU-Staat – gemessen an der Bevölkerungszahl vor Kriegsausbruch – würde Kiew eine gewichtige Stimme zukommen. Vor allem aber würde ein Beitritt der Ukraine die Grenze der EU weiter in den Osten verschieben als jemals zuvor. Direkt vor die Tore Russlands. Ein solcher Schritt hätte eine enorme geopolitische Bedeutung. Politikwissenschaftlerin Prof. Tanja Börzel: „Ich glaube nicht, dass der Zeitpunkt der Krim-Annexion 2014 und jetzt der Ukraine-Krieg Zufall sind. Jedes Mal, wenn die Ukraine einen weiteren Schritt in Richtung Westen macht und ihren Willen bekundet, ein demokratisch verfasstes Land zu sein, wird Putin nervös und beginnt mit seiner Destabilisierungsstrategie, die immer extremere Formen annimmt, weil sich die Ukraine nicht unterordnen will.“

Im Gespräch mit FR.de von IPPEN.MEDIKA: Prof. Tanja Börzel, Leiterin der Arbeitsstelle Europäische Integration und Sprecherin des Exzellenzclusters „Contestations of the Liberal Script“, welches Ursachen, Ausprägungen und Konsequenzen der Auseinandersetzungen um liberale Gesellschaftsmodelle untersucht.
Im Gespräch mit FR.de von IPPEN.MEDIKA: Prof. Tanja Börzel, Leiterin der Arbeitsstelle Europäische Integration und Sprecherin des Exzellenzclusters „Contestations of the Liberal Script“, welches Ursachen, Ausprägungen und Konsequenzen der Auseinandersetzungen um liberale Gesellschaftsmodelle untersucht. © Katy Otto

Unterordnen wollte sich die Ukraine auch nicht 2013/2014. Das zeigte die pro-europäische Euromaidan-Bewegung. Mehr als 100 Demonstrierende starben im Kampf für weitreichende Reformen. Auslöser war die Weigerung des damaligen Regierungschefs Viktor Janukowytsch, das EU-Assoziierungsabkommen zu unterschreiben. „Die ukrainische Bevölkerung ist 2013 im Zuge des Euromaidan auf die Straße gegangen, um einen freiheitlichen Staat, echte Gewaltenteilung und das Ende von Korruption und Oligarchie einzufordern“, sagt dazu die Grünen-Bundestagsabgeordnete Jamila Schäfer FR.de von IPPEN.MEDIA. Der aktuelle Angriff Putins gelte vor allem diesem demokratischen Bestreben der Ukraine.

„Der Krieg in der Ostukraine und die Krim-Annexion haben die Ukraine nicht davon abgehalten, ihren demokratischen Weg weiterzugehen“, betont auch FU-Professorin Börzel. Und fügt an: „Das ist für Putin eine unmittelbare Bedrohung, denn die Ukraine grenzt an Russland. Eine wohlhabende Ukraine, demokratisch verfasst, übt Druck auf ein kleptokratisch, korruptes und autokratisches Regime wie das von Putin aus. Selbst wenn dieser Krieg beendet wird, wird dieser Konflikt bleiben.“ Bei einem EU-Beitritt der Ukraine würde der Staatenverbund den Ukraine-Konflikt also erben.

Das ist für Putin eine unmittelbare Bedrohung, denn die Ukraine grenzt an Russland. Eine wohlhabende Ukraine, demokratisch verfasst, übt Druck auf ein kleptokratisch, korruptes Regime wie das von Putin aus. Selbst wenn dieser Krieg beendet wird, wird dieser Konflikt bleiben.

FU-Professorin Tanja Börzel

Ukraine-Beitritt: EU müsste Beistandspflicht nachverbessern – um Russland abzuschrecken

Das birgt Risiken. Gemäß Artikel 42.7 des Lissabonner Vertrages sind die anderen EU-Mitgliedsstaaten derzeit verpflichtet, im Falle eines „bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats“, den Mitgliedstaat zu unterstützen. Wie Dr. Ronja Kempin von der Stiftung für Wissenschaft und Politik in einer kürzlich veröffentlichten Publikation ausführt, müsse die EU diese Beistandspflicht stark nachbessern, um Russland abschrecken zu können. Denn: „Nach einem Beitritt der Ukraine wäre die EU Russlands ungerechtfertigter Aggression gegen die Ukraine, seinen strategischen Einschüchterungen und direkten Bedrohungen noch direkter ausgesetzt.“

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Doch der Ukraine deswegen keine Beitrittsperspektive anzubieten, ist wohl keine Option. Spätestens nicht, seitdem die Ukrainer:innen für Freiheit und Demokratie gegen Russland kämpfen. „Die Ukraine steht an der Frontlinie und verteidigt europäische Werte“, sagte EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen erst im Juni. Nicht der einzig wichtige Grund für die europäische Wertegemeinschaft. Expertin Börzel sieht einen EU-Anschluss vollkommen im Sinne der Europäischen Union. „Das ist keine Selbstlosigkeit, kein Geschenk der EU an die Ukraine“, meint sie. Denn Europa dürfe die Ukraine nicht an Russland verlieren. „Eine nationalistische, unabhängige Ukraine, die sich Putin anschließt und gegen Europa wendet, ist nicht in unserem Interesse“, sagt Börzel. Bedeutet: Am Ende geht es wie so oft um Selbsterhalt.

Grünen-Abgeordnete Jamila Schäfer warnt EU davor, den Westbalkan zu verlieren

Stichwort Selbsterhalt: In der Diskussion um eine mögliche Osterweiterung muss der Westbalkan im selben Atemzug genannt werden. Die sechs Länder Serbien, Kosovo, Montenegro, Albanien, Nordmazedonien und Bosnien-Herzegowina befinden sich bereits seit Jahrzehnten im Wartezimmer der EU. Der Frust wächst. Und Russland oder China könnten eines nicht allzu fernen Tages dieses Vakuum füllen. Auch das wäre keinesfalls im Interesse der Europäischen Union.

Wenn wir nicht endlich klare Fortschrittssignale an die Staaten des Westbalkans senden, werden Russland, China und andere Akteure die Lücke füllen.

Jamila Schäfer, Grünen-Bundestagsabgeordnete

Das weiß auch Grünen-Politikerin Jamila Schäfer: „Wenn wir nicht endlich klare Fortschrittssignale an die Staaten des Westbalkans senden, werden Russland, China und andere Akteure die Lücke füllen.“ Gleichzeitig sei es wichtig, die Länder nicht über einen Kamm zu scheren. Schäfer: „Nordmazedonien und Albanien haben die Aufgaben, die die EU ihnen gestellt hat, erfüllt. Hier kann die EU ihre Glaubwürdigkeit nur behalten, wenn sie endlich mit den Beitrittsverhandlungen beginnt. Montenegro ist nach dem jüngsten demokratischen Wechsel auf einem guten Weg, der Konflikt zwischen Serbien und Kosovo und die sich verschlechternde innenpolitische Lage in Bosnien zeigen die Herausforderungen in den Beitrittsprozessen.“

Riskiert die EU also aktuell, an einer anderen Flanke umso verwundbarer zu werden? Ein Spitzentreffen der EU mit den Westbalkan-Ländern endete zuletzt ohne eine neue Perspektive. Der Frust auf dem Westbalkan wächst weiter, während sich die Ukraine zumindest auf der Fahrbahn in Richtung Europa befindet.

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