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„Es war totales Chaos“: Münchner berichtet von dramatischer Ukraine-Flucht seiner Familie aus Kiew

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Von: Anna-Katharina Ahnefeld

Die eigene Familie auf der Flucht vor russischen Truppen: Der Münchner Jurist Dr. Kramer spricht über den Kriegsausbruch und die Situation vor Ort.

München – Seit Ausbruch des Ukraine-Krieges befinden sich zahlreiche Menschen auf der Flucht. Dem UN-Flüchtlingshilfswerk zufolge sind bereits zwei Millionen Menschen vor der russischen Invasion in andere Länder geflüchtet. „Dies ist nun die am schnellsten wachsende Flüchtlingskrise seit dem Zweiten Weltkrieg“, twitterte die Organisation. Teil dieser Fluchtbewegung ist die Ehefrau und der Sohn des Münchner Unternehmers Dr. Alexander Kramer.

Der 55-jährige Jurist pendelt normalerweise zwischen München und Kiew, wo seine Familie bis vor Kurzem lebte. Aktuell befindet er selbst sich in Deutschland und unterstützt seine Familie aus der Ferne bei ihrer Flucht vor den russischen Truppen. Mit IPPEN.MEDIA spricht Dr. Kramer über die familiäre Ausnahmesituation, die Stimmung in der ukrainischen Bevölkerung und die Lage in den Grenzgebieten.

Dr. Alexander Kramer im IPPEN-Interview: Der Unternehmer aus München berichtet von der Flucht seiner Familie im Ukraine-Krieg.
Dr. Alexander Kramer im IPPEN-Interview: Der Unternehmer aus München berichtet von der Flucht seiner Familie im Ukraine-Krieg. © Privat

Alle Informationen zum Ukraine-Konflikt* finden Sie in unseren News-Tickern zu den Verhandlungen im Ukraine-Krieg und zur militärischen Lage im Ukraine-Krieg.

Ukraine-Krieg: Münchner berichtet von Flucht seiner Familie – „drei Nächte und Tage in Bus, Taxi, zu Fuß, im Wald, auf der Landstraße, unterwegs“

IPPEN.MEDIA: Können Sie uns die Situation beschreiben, in der sich Ihre Familie in der Ukraine aktuell befindet?

Alexander Kramer: Mit der Bombardierung von Kiew begann direkt am 24. Februar für meine Familie die Flucht aus Kiew. Meine Frau hat mich zunächst um 4.32 Uhr angerufen und gesagt: Kiew wird bombardiert. Sie sind dann zu Fuß raus aus der Stadt, meine Frau, unser elfjähriger Sohn Kostja und ihre Mutter mit 66 Jahren. Als Gepäck hatten sie nur Rucksäcke, mehr konnten sie aus der Wohnung nicht mitnehmen. Vor ihrem Aufbruch haben sie die Wohnung abgeschlossen und Fenster gekippt, wegen der Druckwellen. Wir wohnen in einem großen, schönen Apartmentblock mit 23 Stockwerken und direkt gegenüber wurde das Haus getroffen. Und dann sind sie losgezogen, ohne Funkverbindung, und waren drei Nächte und Tage in Bus, Taxi, zu Fuß, im Wald, auf der Landstraße, unterwegs.

Haben sie auf ihrer Flucht russische Truppen gesichtet?

Ja. Mein Sohn Kostja hat am Himmel Flugzeuge und Transport- und Kampfhelikopter entdeckt. Dazu muss man wissen, dass Kostja sehr interessiert an solchen Flugobjekten ist. Als sie auf der Landstraße waren und die Helikopter geflogen sind, hat er mir eine WhatsApp geschrieben und ich habe ihm gesagt, sie sollen schnell runter von der Landstraße. Ich habe meinem Sohn klar gemacht, dass er, wenn der Helikopter geflogen kommt, sich verstecken muss.

Heerestruppenteile oder Schützenfahrzeuge sind ihnen auf ihrem Weg nicht begegnet. Sie sind ja im ersten Impuls, direkt am Vormittag bei Kriegsausbruch weg, als die ersten Bomben einschlugen und waren somit Teil der ersten Flüchtlingsbewegung. Je länger man braucht, um etwa aus Kiew nach Kriegsbeginn zu flüchten, desto schwieriger wird das.

War für ihre Familie also sofort klar, dass sie sofort aus Kiew raus müssen?

Meine Frau hat bis zuletzt nicht geglaubt, dass tatsächlich ein Krieg ausbrechen wird. Es war einfach nicht in ihren Erwägungen. Sie meinte nur, der Krieg tobe in der Ostukraine ja bereits seit Jahren. Und die Ukrainer haben sich mit diesem permanenten Ausnahmezustand an ihrer Ostgrenze irgendwie arrangiert. Jeder dachte, wie auch bei uns in Deutschland, dass kein Flächenbrand entstehen werde. Man akzeptierte den kleinen Brand, weil man sicher war, wenn man dagegen vorgeht, dann würde Russland* nur aggressiv reagieren. Man hat also alles so gelassen, wie es seit fast zehn Jahren war. Man muss sich also vorstellen, dass man sich über all die Jahre an diese Ausnahmesituation gewöhnt hatte. So wie sich Menschen in Diktaturen auch einrichten. Man richtet sich in solchen Verhältnissen ein, so gut man kann.

Was berichtet ihre Familie von der Stimmung innerhalb der ukrainischen Bevölkerung?

Die Verhältnisse in der Westukraine sind durch die Sicherung des Militärs einigermaßen stabil. Dort befindet sich auch meine Familie momentan. Die ukrainischen Soldaten verwenden viel Aufwand darauf, dass ihnen die Menschen nicht einfach durchrutschen. Sie wollen die Bevölkerung ja zum Kämpfen motivieren. Meine Sorge gilt den Männern, die der Landesverteidigung herangeführt werden sollen. Die Gespräche drehen sich meiner Frau zufolge um naheliegende Dinge wie essen, trinken, schlafen und das Schicksal der Angehörigen. Aber auch familiäre Kontakte nach Russland. Gerade haben wir den Fall, dass der russische Onkel meiner Frau Anna Geld geschickt hat. Das hat der russische Staat mitbekommen. Meine Frau ist jetzt sehr in Sorge, weil sich der Onkel auf einem Schiff der russischen Einheiten befindet und ihm im Hafen nun Schwierigkeiten drohen. Jetzt haben also die Ukrainer um ihren russischen Onkel Angst. Es geht ansonsten viel um die Flucht, Unsicherheit und Verzweiflung.  

Ukraine-Krieg: Familie von Münchner auf der Flucht vor Russlands Truppen

Bekommen Sie Informationen von den Situationen in den Grenzgebieten mit?

Was ich weiß, ist, dass etwa von ungarischer Seite große Kolonnen an der Grenze zur Ukraine stehen. Das weiß ich von mehreren ungarischen Quellen, mit denen ich gesprochen habe. Sie haben mir bestätigt, dass auf der ukrainischen Seite die Abfertigung der Menschen schleppend verläuft, weil man jeden durchsucht. Die Soldaten durchsuchen die Koffer, sie suchen nach Waffen und Sprengstoff. Man sucht alles ab, weil man nicht will, dass sich Wehrpflichtige entziehen. Was sie ansonsten genau suchen, weiß ich nicht. Mir wurde nur mehrfach bestätigt, dass die Flüchtlinge durchsucht werden.

Versucht ihre Familie also aktuell, über die Grenze zu kommen?

Sie sind gerade nahe der ukrainischen Grenze. Wir wissen leider auch noch nicht genau, wie es weitergeht. Gerade ist meine Familie sehr hin- und hergerissen, ob sie auf den russischen Onkel warten soll. Und bei meiner Frau Anna ist es auch so, dass sie in der Ukraine* einen Bruder und Vater hat, die sich aktuell in ihrem Haus verstecken. Die beiden Männer haben quasi die russischen Truppen vor der Tür und die ukrainische Armee im Rücken. Und wenn sie das Haus verlassen, bekommen sie „einen Helm“ verpasst und werden eingezogen. Der Vater ist zwar bereits 65 Jahre alt, aber das würde keine große Rolle spielen.

Wie ist es für Sie, sicher in Deutschland zu sein, während Ihre Familie in der Ukraine auf der Flucht ist?

Ich befinde mich gerade im permanenten Austausch über WhatsApp mit meiner Frau. Ich weiß gar nicht mehr, wie viele Nachrichten ich geschrieben habe, mit Texten wie: Gib nicht auf, du hast das bisher toll organisiert, du musst noch einen kleinen Schritt gehen. Ich habe diesen Prozess der Flucht die ganze Zeit also begleitet, die Fluchtstrecke organisiert, sie mit Informationen und Geld versorgt. Und ich selbst habe gar keine Gefühle zu der Situation entwickeln können, weil ich die ganze Zeit in eine Art „Hilfsfunktion“ gewechselt habe. Es war totales Chaos, es ist Krieg! Jetzt sind sie in der Westukraine. Kostja hat mir geschrieben, dass alles in Ordnung sei. Sie sind also wieder etwas zur Ruhe gekommen.

(aka) *Merkur.de ist ein Angebot von IPPEN.MEDIA.

Zehntausende Menschen fliehen vor dem grausamen Krieg in der Ukraine* nach Deutschland. „Menschenwürdig“ müsse die Aufnahme sein, fordern CSU und Grüne - und sehen Probleme.

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