Ungarn-Wahl: Ukraine-Krieg als Game-Changer? Orban-Gegner Marki-Zay will „raus aus der Diktatur“

„Orban steht vor der schwierigsten Wahl seit zwölf Jahren“, meint Gegenkandidat Marki-Zay. Merkur.de hat vor der Wahl mit ihm und Grünen-Politiker Hofreiter gesprochen.
Budapest - Die Parlamentswahl in Ungarn findet dieses Jahr unter besonderen Vorzeichen statt. Die Opposition hat sich zusammengeschlossen und schickt einen gemeinsamen Kandidaten ins Rennen gegen den aktuellen Ministerpräsidenten Viktor Orban: Peter Marki-Zay*. Der 49-Jährige, ein bisher eher unbeschriebenes politisches Blatt, ist Außenseiter, aber nicht chancenlos.
Marki-Zay ist seit 2018 Bürgermeister der ungarischen Kleinstadt Hodmezövasarhely. Im Oktober 2021 gewann der Parteilose eine von der Opposition organisierte Vorwahl. Unterstützt wird er von einem bunten Parteienmix aus unter anderem Grünen, Rechten und Linken. Nur so hätte er eine Chance, sagt Marki-Zay im Gespräch mit Merkur.de*. „Wir brauchen dieses gemeinsame, nationale Gegengewicht zu Orban.“
Ungarn-Wahl 2022: Marki-Zays Doppelstrategie - „wir greifen von beiden Seiten an“
Er selbst sagt, er habe mit keiner der insgesamt sechs Oppositionsparteien etwas zu tun. Er wolle seine eigene Politik machen, fährt dabei aber durchaus eine Doppelstrategie. Einerseits betont er gerne seine konservativen Werte. So sagt er, dass er früher selbst Orbans Fidesz-Partei gewählt habe und betont die Wichtigkeit seiner sieben Kinder sowie des Christentums. Zudem sieht er sich als Vertreter der Europäischen Volkspartei, jener Fraktion im EU-Parlament, die Fidesz zuletzt im Streit verlassen hatte. „Wir stehen schon für die Werte der EVP.“ Die EVP wiederum unterstützt Marki-Zay. Parteichef Donald Tusk sprach auf einer Wahlkampfveranstaltung in Ungarn.
Andererseits finden sich auch eher linke Themen in Marki-Zays Wahlprogramm. So setzt er sich für eine deutlich liberalere – und pro-europäische – Politik als Orban ein. Er will binnen fünf Jahren den Euro im Land einführen. Obwohl Ungarn zur EU gehört, wird noch immer mit Forint bezahlt. Außerdem will er Minderheiten wie die Roma-Bevölkerung in Ungarn stärken. Auf seiner Website kann man für Geflüchtete spenden.

Wissen die Wähler damit, wofür Orbans Gegenkandidat überhaupt steht? Besteht nicht die Gefahr durch diesen Kurs, das eigene Profil zu verwässern? „Ja, sicher“, gibt Marki-Zay recht unverblümt zu. „Mir wurde schon vorgeworfen, ich sei zu rechts oder zu links“. Er müsse aber schlicht „von beiden Seiten angreifen“. So will Marki-Zay sowohl konservative Wähler im ländlichen Raum als auch liberale Stadtbewohner ansprechen. Im Wahlkampfmodus sagt Marki-Zay: „Jeder, der den korrupten Ministerpräsidenten stürzen will, muss mich wählen. Ich glaube diese Message kommt bei den Leuten an.“ Ob das tatsächlich so ist, zeigt sich am 3. April.
Ungarn-Wahl 2022: Wahlkampf in einer Medienlandschaft unter Orban-Kontrolle
Einig sind sich Marki-Zay und seine Unterstützer trotz politischer Unterschiede in einem Punkt: „Mit Orban kann es nicht weitergehen“. Der Ministerpräsident, seit 2010 im Amt, habe ein „ausgeklügeltes System geschaffen und die ungarische Politik verändert“. Daher sei es „sehr schwierig in Ungarn noch von einer Demokratie zu sprechen.“ Marki-Zay nennt die Schlagworte Korruption, Wahlrechtsreformen, Gesetzesänderungen, von denen Orban profitiere, und Unterdrückung der Pressefreiheit. Noch 2006 lag Ungarn im Ranking der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen vor Deutschland. Auf Platz zehn. Im aktuellen Ranking von 2020 ist Ungarn abgerutscht auf Rang 89. Das liegt daran, dass Orban mittlerweile viele Medien kontrolliert.
Die NGO „Reporter ohne Grenzen“ über die Pressefreiheit in Ungarn
„Seit Viktor Orban und seine Fidesz-Partei 2010 an die Regierung kamen, haben sie die Medien Schritt für Schritt unter ihre Kontrolle gebracht. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk und Ungarns einzige Nachrichtenagentur wurde zentralisiert. Die regionale Presse ist seit Sommer 2017 vollständig im Besitz Orban-freundlicher Unternehmer. 2018 wurden fast 500 regierungsnahe Medienunternehmen in einer Holding mit zentral koordinierter Berichterstattung zusammengefasst. Wichtige kritische Medien wurden eingestellt, große Nachrichtenportale in den Besitz Orbán-naher Unternehmer und redaktionell auf Linie gebracht.“
Ungarn-Wahl: „Die Fidesz-Propaganda ist überall“ - Hofreiter spricht von „nicht fairem“ Wahlkampf
Ungarns Medienlandschaft ist damit klar orbanfreundlich. Marki-Zay spricht sogar von Gehirnwäsche. „Der Propagandaapparat funktioniert und gibt der Opposition die Schuld an Ungarns Problemen“, meint der 49-Jährige mit Blick auf die Wirtschaftslage und die höhere Inflation.“ Zudem hätte man sich für die Corona-Impfung nur per Mail registrieren lassen können. Dann sei über diese E-Mail-Daten Wahlkampfwerbung betrieben worden. „Die Fidesz-Propaganda ist überall. Sie verbreiten etliche Lügen über mich oder reißen Dinge aus dem Zusammenhang.“
Vor der Wahl hat der parteilose Politiker lediglich fünf Minuten im staatlichen Fernsehen bekommen. Das ist das gesetzlich vorgeschriebene Mindestmaß. „Ich bekam fünf Minuten. Fünf Minuten zuvor und fünf Minuten danach war alles wie immer - Orbans Lügen im Fernsehen.“ Ansonsten fand in den meisten Medien nahezu keine politische Debatte statt. Ein Fernsehduell wie in Deutschland üblich gibt es nicht.
In Budapest sowie besonders im ländlichen Raum sieht man fast nur Orban-Plakate. Das liegt wohl auch daran, dass die meisten der Werbeorte wie Litfaßsäulen oder Werbetafeln in den Händen von Orban-Vertrauten wie Lörinc Meszaros liegen, wie der Grünen-Politiker Anton Hofreiter gegenüber Merkur.de schildert. „Die ganzen Plakatfirmen gehören de facto der Fidesz-Partei und sie entscheidet, wie viel die Opposition plakatieren darf.“

Hofreiter war eine Woche vor der Wahl in Ungarn und verließ das Land insgesamt mit dem Bild eines „nicht fairen“ Wahlkampfs. „Man hatte nicht den Eindruck, dass man in einem EU-Mitgliedsland mit einer funktionierenden Demokratie ist“. Hofreiter spricht auch von möglichem Wahlbetrug durch das Zählen von Stimmen im Ausland lebender Ungarn. Das ist offiziell erlaubt, allerdings auch schwer zu überprüfen. „Wir haben absolut keine Kontrolle darüber, wie viele Stimmen Fidesz für sich selbst ergaunert“, sagt Marki-Zay.
Aus Sorge vor Manipulation bei den Ergebnissen der Ungarn-Wahl wird die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) einen Trupp aus Wahlbeobachtern ins Land schicken.
Ungarn-Wahl: Der Ukraine-Krieg als Game-Changer im Wahlendspurt?
Nach seinen Chancen befragt spricht Marki-Zay von einem Fifty-Fifty-Duell. „Es ist ein kleines Wunder, dass wir überhaupt noch eine Chance haben.“ Die Umfragen prognostizierten vor einem Monat nahezu ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Fidesz war weniger als fünf Prozent in Front. „Viktor Orban* steht vor der schwierigsten Wahl seit zwölf Jahren“, meint Marki-Zay. Bei den vergangenen drei Wahlen hatte Orban problemlos gegen chancenlose Gegenkandidaten gewonnen.
Durch den Ukraine-Krieg* scheint sich die Stimmung allerdings etwas gedreht zu haben. Eine Woche vor der Wahl kommt Orbans Fidesz-Partei auf 50 Prozent, Marki-Zays Bündnis erreicht 43 Prozent. Als Nachbarland der Ukraine spürt Ungarn die Auswirkungen des Krieges stärker als andere EU-Länder. Der Budapester Bahnhof ist seit Wochen voller ukrainischer Geflüchteter. Womöglich kann Orban einige der eher migrationskritischen Wähler abgreifen - auch mit seiner Rhetorik, meint Marki-Zay. „Bisher haben 800.000 Ukrainer die ungarische Grenze überquert. Orban hat das Flüchtlingsnarrativ neu für sich entdeckt* und instrumentalisiert es. Er verschweigt, dass überhaupt nur 2500 von ihnen wirklich in Ungarn bleiben wollen.“

Ungarn-Wahl im Zeichen des Ukraine-Kriegs: „Sind enorm auf russisches Gas angewiesen“
Orban steht im Westen derzeit wegen seiner Putin-Nähe in der Kritik. „Er vertrat zwölf Jahre Putins Interessen, das ist ganz klar“, sagt Marki-Zay. „Jetzt wechselt er seinen Kurs etwas, aber er unterscheidet immer noch viel zu wenig zwischen dem Aggressor und dem Opfer in diesem Krieg.“ Ungarns Wirtschaft ist stark an Russland ausgerichtet. Noch im Oktober wurde ein neuer Gas-Deal mit Gazprom eingetütet. Deshalb sind nicht nur Orban sondern auch Marki-Zay skeptisch bei einigen Sanktionen gegen Russland.
Zwar müsse man Russland „mit allem sanktionieren, was den Krieg stoppen kann“, sagt der Ministerpräsidentenkandidat. „Aber Ungarn ist enorm auf russisches Gas angewiesen. Wir müssen unabhängiger werden, aber werden aktuell keinen kompletten Gas-Stopp durchführen. Es sei denn, wir werden international unterstützt, zum Beispiel durch LNG-Terminals.“ Damit ist Flüssiggas zum Beispiel aus Katar gemeint, auf das nun auch die Bundesrepublik setzen will.
Sollte Marki-Zay am Sonntag die Wahl gewinnen, steht er vor der schwierigen Aufgabe, die unterschiedliche Politik der Opposition zu einen. Ob dieses Bündnis auch nach der Wahl und in möglichen Krisenzeiten geschlossen auftreten kann, scheint zumindest fraglich. „Es wird bestimmt nicht immer einfach, das ist ganz klar“, sagt Marki-Zay. „Aber es gibt ein Thema, vor dem ich mehr Angst habe: dass Orban für weitere Jahre dieses Land regiert.“ Er wolle nicht nach rechts oder links zu den Oppositionsparteien schauen, sondern nach oben, sagt Marki-Zay und erhebt dann seine Stimme: „Wir müssen raus aus den Problemen. Wir müssen raus aus der Diktatur.“ (as)
Ungarn-Wahl 2022
Dieser Text ist Teil unserer Berichterstattung zur Ungarn-Wahl am 3. April. Lesen Sie auch einen Text zu den Profiteuren von Ungarns Sportpolitik und über Puskas Akademia, einen Fußballklub aus Orbans Heimatort Felcsut.
Ungarn-Wahl 2022 bei Merkur.de
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