Gelungene Zeitenwende

Wetzlar (ra). Hätte man vor der Bundesliga-Spielzeit 2021/22 Orakel gespielt und den Handball-Verantwortlichen der HSG Wetzlar Abschlussplatz sieben vorhergesagt, sie alle hätten es in dicken Lettern doppelt und dreifach unterschrieben. Der vollzogene Trainerwechsel von Kai Wandschneider zu Benjamin Matschke, der Abgang der Leistungsträger Kristian Björnsen, Tibor Ivanisevic und Anton Lindskog - dazu noch immer die Unwägbarkeiten der Corona-Pandemie.
Alle bewältigt.
Die in den vergangenen zehn Jahren siebte (!) Platzierung unter den Topten im deutschen Handball-Oberhaus - diesmal vor der MT Melsungen, den Rhein-Neckar Löwen, dem SC DHfK Leipzig - lässt nur das eine Fazit zu: Zeitenwende gelungen!
Höhepunkte: Das Heim-27:25 gegen TBV Lemgo Lippe, endlich der ersehnte Sieg gegen die Ostwestfalen. Der fulminante 38:16-Heimcoup gegen die TSV Hannover-Burgdorf, sensationelle 22 Tore plus, der goldene Dezember mit dem neuerlichen Erfolg über den THW Kiel oder der Februar-Auswärtssieg bei den Rhein-Neckar Löwen. Bis in den März (26:26 in Stuttgart) reihte sich ein Peak an den anderen.
Rückschläge: Nach Evars Klesnik und Anton Lindskog sollte Philipp Henningsson einer der nächsten zentralen Spieler der Wetzlarer Deckung sein. Seine vorzeitige Rückkehr in die schwedische Heimat, die neuerliche Verletzung von Spielmacher-Backup Alexander Feld sowie die Heimspiel-Misere im Frühjahr setzten den Wetzlarern ebenso zu wie in der letzten Saisonwoche die nicht mehr zu kompensierenden Ausfälle von Till Klimpke und Stefan Cavor und verhinderten unter dem Strich eine noch bessere Platzierung. Vielleicht.
Plus: Die höher stehende 6:0- sowie die offensivere 5:1-Abwehrformationen erfüllten ungewohnt schnell die Anforderungen, auch wenn die gegnerischen Kreisläufer dadurch noch schwer zu verteidigen waren. 26,76 Gegentreffer pro Partie sind ein ordentlicher Wert. Zu dem auch das junge Torhüter-Duo Till Klimpke/Anadin Suljakovic beigetragen hat. Die Siege gegen Melsungen/Kiel und bei den Löwen bleiben zwar haften, wie stabil die HSG Wetzlar insgesamt aber war, zeigen die für ihren Leistungsbereich bedeutsameren Erfolge beim Bergischen HC, beim HC Erlangen, bei GWD Minden, bei TuS N-Lübbecke, bei TSV Hannover-Burgdorf, bei HBW Balingen/Weilstetten. Chapeau!
Minus: In nahezu allen Rückrundenstatistiken liegen die Werte hinter denen der Vorrunde. Bei Lenny Rubin zum Beispiel betrug die Wurfquote nur noch 50 Prozent der Vorrunde. Was die Chancenverwertung und die Anzahl der technischen Fehler betraf, sackten die Kurven noch krasser ab. Im Positionsangriff verloren Entscheidungsverhalten und Spielsteuerung unter Stress an Qualität. Daran werden sowohl die Außen- und Gegenstoßspieler als auch die Mittelmänner zu arbeiten haben, während die Halbspieler sich in der Kleingruppe erneut an ein anderes/weiteres Kreislaufspiel anzupassen haben.
Fazit: Auch wenn eine zweite Europapokal-Teilnahme nach 1998 das letzte Wetzlarer Handball-Jahrzehnt in der Premierensaison von Trainer Benjamin Matschke gekrönt hätte, so haben die Mittelhessen einmal mehr die Liga überrascht. Wetzlar liefert mittlerweile zuverlässig Jahr für Jahr ab - und künftig hoffentlich auch wieder bei Vollauslastung der Buderus-Arena. Denn vor allem das Zuschauerinteresse dient dem »Erstliga-Unternehmen HSG Wetzlar« als Ansporn und Existenzgrundlage zugleich.
Ausblick: Von 1999 bis 2011 ging es für die HSG Wetzlar im Oberhaus bis zum letzten Spieltag fast immer um den Ligaerhalt. Kampf, Leidenschaft und Ausdauer waren im Abstiegskampf ausschlaggebende Faktoren. In den vergangenen zehn Spielzeiten ist das Abstiegsgespenst nunmehr bereits in jeder Vorrunde weitgehend vertrieben worden. Was aber, wenn bei der künftig sehr jungen Mannschaft ein ähnlicher körperlicher und mentaler Kräfteverschleiß einsetzt wie in den letzten Wochen dieser Saison, wenn es an den letzten Spieltagen wieder um existenziellere Dinge geht? Das Trainerteam hat sich mit seinen Athletik- und Mentalexperten auf die Suche nach den Ursachen zu begeben. Schließlich ist gerade dieser Bereich seit dieser Saison so stark wie nie zuvor im analytischen Fokus gewesen. Die Belastungssteuerung ist - bei allen negativen Spielplan-, Corona- und Personal-Einflüssen - ein elementarer Bestandteil des Profisports.