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HSG Wetzlar: Allen Hiobsbotschaften zum Trotz

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Es ist so schön, es ist so schön… Wetzlarer Handball-Jubel im Herbst 2021. © VOGLER

Sieben auf einen Streich waren es nicht, aber 5 von 7! Die HSG Wetzlar trotzt in der Handball-Bundesliga bislang allen Hiobsbotschaften und knüpft mit zuletzt sehr starken 10:4 Punkten - darunter vier auswärts - unter ihrem Neu-Trainer Benjamin Matschke nahtlos an die langjährige Erfolgsgeschichte von dessen Vorgänger Kai Wandschneider an.

Ein schweres Erbe hatte er anzutreten, Benjamin Matschke, der neue Trainer der HSG Wetzlar. Das von Kai Wandschneider, dem langjährigen Coach des Handball-Bundesligisten, der in Mittelhessen Kultstatus erlangt hatte.

Aber dieser Umstand war es nicht allein, mit dem sich der 39-jährige Handball-Lehrer seit diesem Sommer auseinanderzusetzen hatte. Mit dem baumlangen Schweden Anton Lindskog war sowohl Kreisläufer Nummer eins als auch der zentrale Deckungsspieler im Innenblock zu ersetzen, mit dem international hoch dekorierten Norweger Kristian Björnsen fehlte fortan einer der wesentlichen Stabilisatoren des Wetzlarer Spiels. Mit Till Klimpke/Anadin Suljakovic setzte man wagemutig auf das jüngste Torhüter-Duo der Liga. Und jetzt, im Herbst 2021, nach 15 Bundesliga-Partien, in der Vorweihnachtszeit, rangieren die Grün-Weißen im Oberhaus mit 17:13 Punkten auf einem internationalen Platz. Vor den Rhein-Neckar Löwen und der MT Melsungen, auch vor SC DHfK Leipzig und HSV Hamburg. Fünf-Sterne-Spiele wie beim 38:16 gegen TSV Hannover-Burgdorf zeigen die Mittelhessen zwar nicht Woche für Woche, dafür aber lassen sie die Konkurrenz von Lemgo bis Balingen jede Menge Wegezoll zahlen. Die Fragen und Antworten zur neuerlichen Wetzlarer Erfolgsgeschichte.

?Was waren die kniffligsten Aufgaben, die sich Trainer Benjamin Matschke stellten?

Mit Adam Nyfjäll, Patrick Gempp und Felix Danner war ein vollkommen neues Kreisläuferspiel notwendig, auf das sich die komplette Mannschaft sowohl im Positionsangriff als auch im Gegenstoßspiel einzustellen hatte. Durch den verletzungsbedingten Ausfall von Patrick Gempp und die erforderliche Nachverpflichtung vom Tomislav Kusan ergab sich eine veränderte Situation sowohl für das Kleingruppenspiel als auch bei Übergängen und Einläufern. Beim 31:28 gegen die MT Melsungen klappte dies vor allem bei den Bodenpässen von Stefan Cavor zu Felix Danner nahezu perfekt.

?Das gleiche galt dann ja wohl auch für die Abwehr?

Exakt! Im Innenblock war in der Vergangenheit vor allem auf das Duo Lindskog/Forsell Schefvert Verlass. Auch hier musste Benjamin Matschke von Woche zu Woche neu justieren. Anfangs fehlte der schwedische Allrounder noch nach seiner OP im Frühjahr, zwischenzeitlich musste Felix Danner zweimal passen, dazu kam der tragische Kreuzbandriss von Patrick Gempp, den der Coach auf dem Zettel hatte. Mit der Nachverpflichtung des kroatischen Hünen Tomislav Kusan gab es wieder eine neue Option, weshalb Trainer Matschke praktisch in jeder einzelnen Partie im Innenblock solange nachjustierte, bis er die optimale Lösung gefunden hatte. In der Konsequenz, dass die HSG pro Spiel im Schnitt 2,25 Tore weniger kassiert als sie selber wirft.

?Was hat sich in der Struktur, in der spieltaktischen Ausrichtung geändert?

Grundsätzlich verteidigt die HSG Wetzlar in der 6:0-Verteidigung höher, setzt den Gegner stärker unter Druck und erzielt dadurch Ballgewinne, die in der ersten und zweiten Welle verstärkt zu Toren führen. Ein verlässliche Alternative bildet die 5:1-Variante mit Linksaußen Emil Mellegard auf der »1«, gegen die gerade die Melsunger bei der Niederlage im Hessenderby trotz siebtem Feldspieler ratlos wirkten. Darüber hinaus favorisiert der Coach im Umschaltverhalten nach vorne den vertikalen Pass, der zwar risikoreicher ist, aber schneller zum Erfolg führt. Beim Rückzug hat es den Anschein, als hätten vor allem Lenny Rubin und Stefan Cavor über die Arbeit mit dem Athletikcoach schnellere Beine bekommen - physisch und im Kopf.

?Welche Stärken kommen immer deutlicher zum Vorschein?

In Till Klimpke und überraschend schnell auch in Anadin Suljakovic formt Torwartrainer Jasmin Camdzic derzeit das stärkste Talente-Paar im Oberhaus, das sich hervorragend ergänzt. Die Klasse der Distanzschützen Lenny Rubin und Stefan Cavor ist lange bekannt. Der Schweizer ist in Abwehr und Angriff eine feste Größe und in jeder Sekunde bereit, Verantwortung für sich und andere zu übernehmen. Fehlt eigentlich nur noch, dass er analog zu Welthandballer Domagoj Duvnjak beim THW Kiel seine adlermäßige Spannbreite bald noch in einer offensiven HSG-Deckung zum Einsatz bringt. Aus dem Halb- ist längst ein Volledelstein geworden. Stefan Cavor befindet sich nach seiner langwierigen Handverletzung auf dem Weg zurück zu alter Stärke und glänzte mit einem halben Dutzend Assists am Sonntag gegen die Nordhessen sogar als Teilzeit-Spielmacher.

?Woran muss noch gearbeitet werden?

Vornehmlich an der Chancenverwertung und der Geduld im gebundenen Angriff. Beispielhaft waren die drei freien Wurfchancen, die früh vor der Pause von Mellegard und Srsen gegen Melsungen ausgelassen wurden, weshalb es nach 20 Minuten nicht 12:8, sondern nur 9:8 stand. Argumente für ein geduldigeres Angriffsspiel lieferte beispielhaft die Endphase, als Coach Matschke mit dem eigentlich angeschlagenen Routinier Filip Mirkulovski seinen letzten Pfeil aus dem Köcher zog und dieser umsichtig Regie führte. »Leider hat es Wetzlar trotz Passivspiel immer wieder geschafft, noch zu guten Wurfpositionen zu kommen«, beklagte Melsungens starker Keeper Simic genau diesen Umstand. Aus dem 26:27-Rückstand (55.) der HSG wurde somit die siegbringende 30:27-Führung (60.).

?Was zeichnet die Mannschaft aus?

Wie unter Kai Wandschneider der Dos-à-dos-Teamgeist. Der ist weiterhin bemerkenswert. Wie unter Kai Wandschneider die klare Handschrift und die klaren, aber anders gearteten (Defensiv-)Vorstellungen des Trainers. Wie unter Kai Wandschneider das Finden von immer wieder neuen Lösungen in Stresssituationen. Benjamin Matschke pflegt eine offene Kommunikation und bekommt diese zurückgezahlt. Benjamin Matschke nimmt jeden Spieler mit und bekommt dieses Vertrauen zurückgezahlt. Benjamin Matschke klagt nicht, wenn Personal wegbricht, sondern stärkt die Verbliebenen.

?Welche Perspektiven eröffnen sich für die HSG Wetzlar im weiteren Saisonverlauf?

Platz sechs ist wohl eher eine Momentaufnahme, das internationale Geschäft das Ziel anderer Clubs. Bis zum Jahresende stehen noch der Hit gegen THW Kiel (19. Dezember) sowie die Weihnachtsauswärtsspiele bei GWD Minden (22. Dez.) und bei TuS N-Lübbecke (27. Dez.) an. Wenn das HSG-Team nach seiner dreitägigen Trainingspause am morgigen Freitag mit vollen Akkus wieder in das Teamtraining einsteigt, beginnt zunächst aber die gezielte Vorbereitung auf das bedeutsame DHB-Pokal-Achtelfinale beim HC Erlangen am nächsten Dienstag im Fränkischen. Wird der 27:24-Punktspielerfolg von letzter Woche wiederholt, wäre das Hamburger Final 4 greifbar nahe. Einer grün-weißen Mannschaft, die in den vergangenen Monaten vom vorzeitigen Abschied eines Philip Henningsson über den Kreuzbandriss eines Patrick Gempp, die Rekonvaleszenzen von Olle Forsell Schefvert, Stefan Cavor und vor allem Alexander Feld sowie den verletzungsbedingten Ausfällen von Magnus Fredriksen, Filip Mirkulovski oder Tomislav Kusan allen Hiobsbotschaften getrotzt hat, ist noch einiges zuzutrauen. Selbst das Nyfjäll-Rot kurz nach der Pause hat Benjamin Matschke und sein Team im Prestigeduell mit Melsungen nicht aus der Bahn geworfen. Am neuerlichen Ligaerhalt bestehen bei bereits elf Punkten Vorsprung auf den ersten Abstiegsplatz jedenfalls kaum noch Zweifel. Und das Anfang Dezember!

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