Mit VAR «gerechter, aber nicht besser«

Ein Fußball-Thema ist auch bei der WM hoch oben angesiedelt: der Video-Assistent-Referee (VAR). Heimische Trainer und Fußballfunktionären haben sehr unterschiedliche Meinungen zum VAR.
Der Video-Assistent-Referee (VAR) bleibt in Fußball-Deutschland weiter umstritten. Bei der WM in Katar gab es Diskussionen, ob der Ball vor dem entscheidenden Tor von Japan im Aus war und der Treffer, welcher das deutsche WM-Aus besiegelte, nicht hätte gelten dürfen. In der Bundesliga gab es ebenfalls Diskussionen. Vor allem im Spiel von Eintracht Frankfurt gegen Borussia Dortmund wurde kritisiert, dass der VAR nicht eingriff, obwohl es einen klaren Elfmeter zugunsten von Frankfurt hätte geben müssen. Vielfach wird bemängelt, dass der VAR in der Bundesliga tätig wird, obwohl keine offensichtliche Fehlentscheidung des Schiedsrichters vorlag. Wie ist die Meinung in der heimischen Fußball-Szene? Ein Stimmungsbild.
Andreas Bernhardt (Kreisfußballwart): Die abschließende Gerechtigkeit gibt es nicht. Überall, wo Menschen arbeiten, gibt es Fehler. Das viele Geld hat den Fußball verändert. Ein absoluter Ausgleich für alle ist schwer möglich. Ich erinnere nur an die »Hand Gottes« von Maradona bei der WM 1986 oder den Elfmeter zugunsten der Deutschen im Endspiel 1990. Da gab es keinen VAR und hätte es ansonsten wohl keinen Elfer gegeben. Es gelingt nie, es für alle 100 Prozent gerecht zu machen. Aber einer muss auf dem Platz der Chef sein. Der VAR soll den Schiedsrichter nur unterstützen beim Fällen von richtigen Entscheidungen. Am Ende muss die ganze Autorität beim Schiedsrichter bleiben. Denn er muss immer den Kopf für die Entscheidung hinhalten. Insgesamt machen die Schiedsrichter im Vergleich zu früher die wenigsten Fehler. Hier hat sich sehr viel getan.
Erdal Akemlek (Kreisschiedsrichterobmann): Das größte Problem ist die fehlende Struktur. Die Schiedsrichter im Amateurbereich schauen am meisten in die Röhre. Denn wir müssen selbst entscheiden, während die da oben sich einen VAR leisten und es dann doch nicht auf die Reihe kriegen. Meiner Meinung nach soll der VAR eingreifen, wenn Rot gezeigt werden muss und es nur Gelb gab. Bei Strafraumszenen muss Klarheit herrschen. Der eine greift ein, der andere nicht. Da gibt es keine klare Linie. Ich bin für den VAR, wenn die Linie klar ist und alle wissen, wie es gemacht wird. Es muss eine bessere Struktur geben, bei der vollkommen klar ist, wann der VAR eingreift und Entscheidungen korrigiert. Was sollen diese Millimeter-Entscheidungen beim Abseits, in denen eine Fußspitze zählt, wo es früher hieß: Im Zweifel für den Stürmer. Es muss klare Sachen geben und nicht minutenlanges Warten. Heute ist die ganze Freude weg und es gibt keinen Torjubel mehr.
Bernd Moses (Kreisrechtswart): Ich habe den VAR von Beginn an kritisch gesehen und bin heute noch ein entschiedener Gegner. Meiner Meinung nach hat sich die Diskussion nur verlagert. Früher wurde gefragt: Hat der Schiri hier richtig oder falsch entschieden - heute ist die Frage, warum hat der VAR hier eingegriffen, obwohl es keine hundertprozentige Fehlentscheidung war beziehungsweise warum hat er jetzt gerade hier nicht eingegriffen. Die Torlinientechnik halte ich für eine gute Sache, entscheidet sie doch sofort und fehlerfrei. Aber Unterbrechungen von zwei bis drei Minuten, um sich eine Situation von acht Perspektiven anzuschauen, zerstören den Spielfluss und nerven Fans wie Spieler einfach nur. Natürlich gibt es Statistiken, die besagen, dass es weniger Fehlentscheidungen gibt und dies im Milliardengeschäft Fußball ja wichtig wäre. Aber ganz ehrlich, da bin ich Fußball-Romantiker: Fehlentscheidungen gehören zum Fußball dazu. Wenn der Ball im Netz ist, will ich feiern oder trauern und nicht warten. Es wird den Weg zurück aber nicht mehr geben und auch die »Challenge-Variante« wie beim Hockey, Tennis oder Volleyball wird nicht eingeführt werden. Mag sein, dass der VAR den Fußball gerechter machen wird, aber was im Leben ist schon gerecht...
Rainer Birkenfeld (Trainer Usinger TSG II): Seitdem es den VAR gibt, ist die Begeisterung und die Dynamik des Fußball komplett aus dem Stadion genommen. Es gibt keine Freude und Begeisterung mehr und die Spontanität geht total verloren. Im Bundesliga-TV hat der Fußball seine Jungfräulichkeit und Faszination verloren. Dafür stand er mal. Mir fehlt einfach die Spontanität. Es kommt auch die Komponente Mensch dazu. Jeder sieht eine Situation anders, selbst bei vermeintlich eindeutigen Entscheidungen. Da muss man nicht fünf Minuten warten. Aber wir leben in dieser Zeit. Vielleicht ist der Fußball gerechter geworden, aber nicht besser. Beim Abseits ist mir der VAR noch verständlich, aber alle anderen Szenen wie Foul oder Hand werden doch völlig unterschiedlich ausgelegt. Wenn der VAR die Aberkennung eines Tores oder eines Elfmeters damit begründet, dass 23 Spielszenen zuvor hätte abgepfiffen werden müssen, dann hat das mit Fußball nichts mehr zu tun.
Simon Bartsch (Trainer SG Wehrheim/Pfaffenwiesbach II): Grundsätzlich ist der VAR ein schönes Instrument, weil es dem Schiedsrichter die Möglichkeit gibt, krasse Fehlentscheidungen zu korrigieren. Es bleibt aber oft bei dem Problem der Auslegung und dann wird die Entscheidung nach hinten verlagert. Auch wenn noch genauer und detaillierter drauf geschaut wird, bleibt es Auslegung. Bei der WM gab es Dutzende Beispiele, wo man sich fragen musste, warum hier nicht eingegriffen wurde. Ungewissheit, Glück und Zufall gehören aber zum Spiel. Das macht den Fußball aus. Jetzt geht es um Haarspitzen. Das ist total albern. Beim Abseits ist es sinnvoll, weil das menschliche Auge beim heutigen Tempo nicht mitkommt. Ansonsten denke ich, dass es auch ohne VAR funktioniert. Wer drei Tore macht und überlegen gewinnt, braucht keinen VAR.
Jörg Loutchan (Trainer FC Neu-Anspach): Prinzipiell bin ich für alles, was den Sport gerechter macht. Deshalb bin ich auch der Meinung, dass die Diskussion über Sinn und Zweck des VAR die Falsche ist. Denn in anderen Sportarten ist der VAR doch fest installiert und akzeptiert. Und das bei zum Teil viel schnelleren und komplizierteren Sportarten wie Eishockey und American Football. Die Handhabung ist dort eine ganz klare. Dieser klaren Handhabung steht beim Fußball zuerst die absurde Handregelung, die kein Mensch mehr versteht, entgegen. Das hat die Konsequenz, das quasi bei jedem Ball, der im Strafraum irgendwo einen Spieler am Körper berührt, eine Diskussion entsteht. Genauso willkürlich erscheint hier auch das Eingreifen eines VAR. Zum Zweiten würde ich mir mal wünschen, dass FIFA, UEFA, DFB mal über den eigenen Tellerrand hinaus zu anderen Sportarten schauen und sich dort was abschauen. Dort gibt es nämlich eine begrenzte Anzahl an Vetos, wo ein VAR von einer Partei, die sich ungerecht behandelt fühlt, in Anspruch genommen werden kann. Auch mit entsprechenden Konsequenzen bei erfolgreichem oder eben nicht erfolgreichem Veto. Fehler gibt es in diesen Sportarten nach wie vor. Aber ob ein VAR sinnvoll ist oder nicht, diese Diskussion gibt es weder beim Eishockey, Tennis, American Football oder sonst wo. Beim Spiel Frankfurt gegen Dortmund hatte Lindström die Möglichkeit, aus rund drei Meter den Ball ins Tor zu befördern. Ich habe bis heute noch nie und nirgends einen Spieler gesehen, der dieser Möglichkeit, ein Tor zu schießen, eine Schwalbe vorzieht, damit dann ein anderer aus elf Metern den Ball vielleicht ins Tor schießt. Wieso hätte er sich in dieser Situation fallen lassen sollen? Für diese ganz einfache Frage benötige ich keinen VAR.
Kai Schroers (Trainer SG Eschbach/Wernborn II): In den meisten Situationen hat der VAR nicht falsch entschieden, Ich hatte mal gelesen, dass 2022 von 116 Entscheidungen 110 richtig waren. Besonders beim Abseits gibt es die Möglichkeit, eine klare Linie zu ziehen. Natürlich kann man über Fußspitzen streiten, aber im Grunde ist das eine faire Sache. Hinter dem VAR stehen menschliche Entscheidungen und die sind nicht unfehlbar. Ganz wichtig ist aber, dass man es den Schiedsrichtern nicht noch schwerer macht. Als Fan von Borussia Dortmund muss ich sagen, dass das in Frankfurt ein klarer Elfer war und diese Ungleichheit beim Eingreifen des VAR fraglich ist. Das ganze muss weiterentwickelt werden. In anderen Sportarten gibt es die Challenge beziehungsweise das Vetorecht. Darüber sollte der Fußball nachdenken. Damit könnte man auch Druck vom Schiedsrichter nehmen. Sicher dauert die VAR-Entscheidung manchmal zu lange, aber daran gewöhnt man sich und ich kann damit leben. Der VAR hat sich im Fußball etabliert und entscheidet überwiegend richtig.
Christof Egenolf (Trainer SGE Feldberg): Grundsätzlich bin ich ein Befürworter. Aber nur dann, wenn einheitlich entschieden wird und es um klare Situationen geht. So wie es jetzt läuft, fehlt mir das Vertrauen. Wenn der Schiedsrichter entscheidet und keine glasklare Fehlentscheidung vorliegt, darf es keinen VAR-Eingriff geben. Viel zu oft hat der Schiedsrichter keine Macht und seine Entscheidungen keine Aussagekraft mehr. Da fehlt mir die Klarheit. Als Zuschauer und Fan will ich nur bei glasklaren Fehlern und nicht bei 50:50-Entscheidungen einen VAR. Nur dann macht es Sinn. Ich wünsche mir mehr Transparenz. Vielleicht sollten erfahrene Ex-Fußballer zur Expertise beitragen, weil sie eine andere Perspektive haben. Ich habe das Gefühl, es wird mehr über die Entscheidungen diskutiert als vorher. Eigentlich müsste das Gegenteil der Fall sein.
Armin Klimmek (Spielausschuss FSG Merzhausen/Weilnau/Weilrod): Wir Deutschen wollen alles zu perfekt machen. Aber auch der Perfekte macht Fehler. Es ist insgesamt gerechter geworden. Aber die Entscheidungsgewalt des Schiedsrichters wird infrage gestellt. Nur wenn der Schiedsrichter etwas übersieht, sollte der VAR korrigieren. Zum Beispiel beim nicht gegebenen Elfmeter in Frankfurt. Bei krassen Fehlentscheidungen oder zum Beispiel einer übersehenen Tätlichkeit sollte der VAR darauf hinweisen: »Schau es Dir nochmal an.« Am Ende muss immer der Schiedsrichter entscheiden. Aber manchmal hat man das Gefühl, dass der VAR entschieden hat. Wir müssen die Schiedsrichter aufwerten, statt sie völlig zu verunsichern. Im übrigen ist man im Nachhinein immer schlauer. Ich kann mich heute über Tore nicht mehr richtig freuen.
Thorsten Binz (Spielausschuss SG Hundstadt): Ich bin gespalten. Es ist gut, da, wo es die Technik gibt, zum Beispiel auf der Torlinie. Die Technik unterstützt den Schiedsrichter. Bei der Frage nach mehr Gerechtigkeit durch den VAR bin ich gespalten. Es wird willkürlich eingegriffen. Wenn der Ball im Aus ist oder nicht. Wo ist da die Verhältnismäßigkeit. Dann kann man alles infrage stellen. Der VAR sollte eingreifen bei Tätlichkeiten außerhalb des Sichtfeldes des Schiedsrichters. Denn nach den Fernsehbildern weiß man ja ohnehin, was passiert ist. Früher entschied nur einer. Heute entscheiden vier im Keller. Ich habe Zweifel, ob so viel Reglementierung den Fußball nicht kaputt macht. Der Schiedsrichter sollte nicht im Vordergrund stehen, sondern das Fußballerische auf dem Platz. Zehn Kameraperspektiven und Zeitlupen verzerren das reale Bild. Als aktiver Fußballer weiß man, dass schon die kleinste Berührung zum Stolpern führen kann. Da sind die Zeitlupen unrealistisch. Früher war der Fußball für alle gleich, ob in der Kreisliga oder Bundesliga. Mit dem VAR sollte er gerechter werden. Es ist nicht besser geworden.