Verantwortung verteilen
Obwohl in der Vorsaison sensationell Vierter, zählt der TV Hüttenberg in der 2. Handball-Bundesliga nicht zum Favoritenkreis. Ein guter Mittelfeldplatz ist realistisch.
Am Wochenende startet die 2. Handball-Bundesliga - und mittendrin der heimische TV 05/07 Hüttenberg. Keine Selbstverständlichkeit - sieht man die (finanziellen) Rahmenbedingungen. Und auch nicht, da die junge Truppe von Trainer Johannes Wohlrab in der letzten Saison sich dennoch fast schon wieder in die Beletage des deutschen Handballs verirrt hätte. Ein weiter extrem verjüngter Kader schickt sich an, erfolgreich an eine perfekte Saison anzuknüpfen.
Kommen/Gehen: Im letzten Jahr stellte der mittelhessische Traditionsverein bereits das jüngste Team der Liga. Zur nun bevorstehenden Saison hat man den Altersdurchschnitt noch einmal weiter abgesenkt auf 23 Jahre. Nachdem Stefan Kneer (Co-Trainer), Christian Rompf und Tobias Hahn ihre beeindruckenden Karrieren beendet haben, steht mit Rückkehrer Timm Schneider, der allerdings erst einmal länger verletzt ausfällt, nur noch ein Ü 30-Spieler im Kader. Auch der letztjährige Königstransfer - das Eigengewächs Dominik Mappes - weckte mit seinen überragenden Leistungen etliche Begierde und hat sich nach einem Jahr wieder in die stärkste Liga der Welt zum Altmeister und Aufsteiger VfL Gummersbach verabschiedet. Der TVH hat also unfassbar viel Routine verloren, »auch abseits des Platzes«, wie Rückkehrer Jannik Hofmann zu Bedenken gibt.
Mit dem bereits angesprochenen 34-jährigen Timm Schneider hat man natürlich einen mit allen Erstliga-Wassern gewaschenen Routinier nach zehn Jahren zurück nach Hüttenberg holen können, der in Lemgo, Melsungen und Gummersbach in über 300 Bundesligaspielen sehr viel Erfahrung gesammelt hat. Der Allrounder im Angriff ist zudem ein wichtiger zentraler Abwehrstabilisator. Daher schmerzt der Ausfall nach seiner Knie-OP aufgrund der in der Vorsaison erlittenen Verletzung umso mehr. »Dann müssen wir die Verantwortung auf weitere Schultern verteilen«, erklärt Jannik Hofmann. Auch der gebürtige Rechtenbacher kommt aus Ludwigshafen mit weiterer Erstliga-Erfahrung - nach dem letzten TVH-Intermezzo 2017/18 - zurück in die Heimat und ersetzt auf Linksaußen Christian Rompf. Im Tor kam es zu einer Rochade mit dem Kooperationspartner HSG Wetzlar. Während Simon Böhne in der bevorstehenden Saison in der 3. Liga weitere Spielpraxis sammeln soll, wird der HSG-Neuzugang Leonard Grazioli mit Zweitspielrecht für den TVH auflaufen. Der 21-jährige Schweizer Neuzugang ist laut Trainer Johannes Wohlrab »die klare Nummer eins. Dominik Plaue hat zwar in der vergangenen Saison eine super Hinrunde gespielt. In der Rückrunde war das aber zu wenig. Da benötigen wir mehr Konstanz«, hat der Coach eine Schwachstelle der Vorsaison erkannt.
Zudem konnten mit dem 20-jährigen David Kuntscher und dem noch ein Jahr jüngeren Paul Kompenhans zwei verheißungsvolle Talente aus dem erweiterten Bundesliga-Kader der MT Melsungen in die Handkäsehochburg gelotst werden. Während Kompenhans als Spielmacher mithelfen soll, die Lücke durch den Weggang von Dominik Mappes zu schließen, wird Kuntscher zusammen mit Niklas Theiß das wohl jüngste Gespann im deutschen Profihandball auf der rechten Rückraumposition bilden. Nachdem Kreisläufer Vit Reichl aufgrund seiner Herzmuskelentzündung nach Corona-Erkrankung die komplette Rückrunde verpasst hat, ist der tschechische Nationalspieler ebenfalls fast als Neuzugang einzuordnen.
Stärken/Schwächen: In der zurückliegenden Saison stellten die Blau-Weiß-Roten etwas überraschend den zweitbesten Liga-Angriff. Wenn dann aber der MVP Dominik Mappes (211 Tore, 115 Vorlagen und den höchsten HPI (Handball Performance Index) aller Zweitligaspieler mit 80) wegfällt, muss dies natürlich erst einmal kompensiert werden. Dass die Mannschaft dazu durchaus in der Lage ist, hat sie in den acht Partien, die Mappes im Vorjahr verletzt verpasste, durchaus bewiesen. Zudem hat der TVH natürlich enorm viel Erfahrung verloren. Was aber Youngster Niklas Theiß relativiert. »Dadurch, dass Joh (Trainer Wohlrab - die Red.) uns so viel Vertrauen mit entsprechenden Spielanteilen gibt, haben wir aber auch schon in jungen Jahren einiges an Erfahrung sammeln können.« Die Vorbereitung hat gezeigt, dass man weiter erfrischenden, temporeichen, Handball spielen will. »Aber natürlich hat man auch gesehen, dass die jungen Spieler noch viel lernen müssen«, bremst Johannes Wohlrab ein wenig. Der zudem - alternativ zur TVH-typischen 3:2:1-Deckung - in der Vorbereitung eine 6:0-Variante einstudiert hat.
Trainer/Umfeld: Johannes Wohlrab hätte durchaus auch die Auszeichnung zum Trainer der Saison verdient gehabt. Die Weiterentwicklung der vielen jungen Spieler und das absolut homogene Mannschaftsgefüge, welches bis zum drittletzten Spieltag sogar die abermalige Sensation Erstliga-Aufstieg nicht unmöglich erschienen ließ, trägt die Handschrift des Berufsschullehrers. Der aber immer wieder betont, dass der gesamte Staff überragende Arbeit leistet. Auch die sportliche Leitung sowie die Nachwuchstrainer machen einen tollen Job. Zehn im eigenen Verein ausgebildete Spieler und insgesamt 16 aus Hessen im 20er-Kader stellen ein überragendes Alleinstellungsmerkmal im Profisport da. In der Sommerpause hat man zudem, mit Unterstützung der Gemeinde, auch dem altehrwürdigen Sportzentrum einen neuen Anstrich verpasst, um ein noch stimmigeres und einheitliches Bild abzugeben.
Zuschauer: Sehenswerter und erfolgreicher Handball mit vielen Identifikationsfiguren, der auf einem überragenden vierten Platz im Abschlussranking gipfelte. Das Sportzentrum Hüttenberg müsste ausverkauft sein - sollte man meinen. Die Wahrheit sah allerdings im Vorjahr ganz anders aus. Im Schnitt eine gerade einmal halb gefüllte Halle treibt den TVH-Verantwortlichen um den scheidenden Geschäftsführer Fabian Friedrich die Sorgenfalten auf die Stirn. »Mit unserem Etat liegen wir auf einem Abstiegsplatz in der Liga«, formuliert er klar, womit die Abhängigkeit von den Zuschauereinnahmen deutlich wird. Und sein Trainer weiß, »wenn die Jungs weiter so gut performen, wird es für uns natürlich schwer, sie auf Dauer zu halten.«
Prognose - Der Sieg am Wochenende im Pokal gegen Eisenach zeigt, welches Potenzial in der Mannschaft von Trainer Johannes Wohlrab steckt. Der aber auch mahnt, dass bei den vielen jungen Spielern Leistungsschwankungen absolut normal sind. Routinier Timm Schneider wird wohl frühestens in einem Vierteljahr zur Verfügung stehen. Der weitere Rückkehrer Jannik Hofmann musste im Pokal wieder angeschlagen aussetzen und Linkshänder Niklas Theiß verletzte sich am letzten Wochenende. Trifft das junge Team aber - wie im Vorjahr - eine Welle, die sie trägt, sollte die obere Tabellenhälfte machbar sein.
Spannend könnte werden, wie man eine eventuelle Negativserie verarbeitet. Johannes Wohlrab und seine Mannschaft formulieren geschlossen. »Wir müssen demütig sein.« Und der Coach ergänzt. »Aue ist abgestiegen - nach Rang fünf im Jahr davor. Großwallstadt und Dormagen waren direkt dahinter platziert und haben nun gerade so den Abstieg vermieden. Daher können wir uns für diese Top-Platzierung der letzten Saison nichts kaufen. Wir haben gemeinsam die Zielsetzung 35 Punkte formuliert - nach 30 im Vorjahr. Damit sollte dann der Klassenerhalt sicher sein. Und je nachdem, wann wir diese Punktzahl erreicht haben, können wir gerne über neue Ziele reden.«
Auch in der letzten Saison hat man die Ausgeglichenheit der Liga gesehen, die jegliche Vorhersage erschwert. Daher ergänzt Trainer Wohlrab weiter mahnend. »Wir müssen wissen, was wir investieren müssen, wenn man weniger Ressourcen (Geld) hat. Jeder muss mehr tun. Und die Jungs haben in der Sommerpause auch super gearbeitet. Das zeigt ihre Leistungsbereitschaft.«