Vierteljahrhundert in Beletage
Wetzlar. Der Zeitpunkt, an das 25-jährige Jubiläum der HSG Wetzlar in der Handball-Bundesliga zu erinnern, ist denkbar ungünstig. Beim Handball-Aushängeschild der Region gilt spätestens nach dem Samstags-25:27 gegen GWD Minden die »Alarmstufe Rot«. Dennoch hieß es sich am gestrigen 4. April daran zu erinnern, dass exakt vor 25 Jahren der Aufstieg in die Beletage des deutschen Handballs geschafft wurde.
Für unzählige Protagonisten sowie für den Autoren selbst kommt beim Blick zurück aufgrund der aktuell misslichen Lage allerdings eine Menge Wehmut auf.
Mit d em 29:22-Triumph am 4. April 1998 beim EHV Aue legten die Väter der grün-weißen Erfolgsgeschichte den Grundstein für mittlerweile ein Vierteljahrhundert im deutschen Handball-Oberhaus. Was zur Zeit von Rainer Dotzauer als Sportlicher Leiter und Horst Spengler als Interimstrainer heutzutage bei jedem Wettanbieter die Gewinnquoten nach oben treiben würde, ist dank der erfolgreichen Anfänge mit den HSG-Eigengewächsen Ralf Kraft und Wolfgang Klimpke zu 25 Jahren Erstliga-Realität geworden.
Der Kolumnist erinnert sich weit zurück, als er »Safti« und »Wolle« schon in den frühen 80er Jahren zu den siegreichen DM-Endspielen der Jugend u. a. bei der SG Unna-Massen begleitete, als Mitte der 80er der Aufstieg von der Regional- in die 2. Liga folgte und exakt zwölf Jahre später - nach langen Jahren großer Zweitliga-Rivalität mit Nachbar TV 05/07 Hüttenberg - der langersehnte Sprung ins Oberhaus gelang.
In jener Spielzeit 1997/98 wechselten schicksalhafte Ereignisse wie der Schlaganfall von Rainer Dotzauer oder die Entlassung des Trainerduos Enyi Okpara/Dieter Schmidt ab mit den historischen Höhepunkten der Klubchronik wie den Einzug in das Europapokal-Finale der Pokalsieger gegen CB Cantabria Santander und dem über allem thronenden Erstliga-Aufstieg. Dem 4. April, einem Samstag, widmeten wir in unserer Montagsausgabe gleich drei Sonderseiten, von denen wir zwei heute als Rückerinnerung auf dieser und der nächsten Seite noch einmal ablichten.
Von diesem Tag an begann das »kleine gallische Dorf« das Oberhaus zu erobern und ist eben über 25 Jahre zu einem etablierten Handball-Bundesligisten geworden. Und auch wenn die bittere Liga-Realität aktuell eher nur Gedanken an den ein Jahrzehnt nicht gekannten Kampf gegen den Abstieg zulässt, sei in den folgenden Zeilen noch einmal an die bedeutsamsten Protagonisten dieses Dutenhofener und Münchholzhausener Erstliga-Vierteljahrhunderts erinnert:
Die Macher: Im Blut von Rainer Dotzauer fließt - bis heute am Spielfeldrand mitfiebernd - grün-weißes Blut. Ohne ihn hätte der Klub die finanziellen Turbulenzen in der Nach-Lindgren-Ära nicht überstanden. Er unterstützte die Arena-Vision und führte die HSG Dutenhofen/Münchholzhausen alias HSG D/M Wetzlar alias HSG Wetzlar ins neue Jahrtausend. Danach wirkte im Hintergrund bis zu seinem plötzlichen Tod lange der Jurist Manfred Rühl mit hoher Kompetenz, ehe mit dem Lahnauer Martin Bender ein Jahrzehnt der wirtschaftlichen Konsolidierung folgte.
Die guten Seelen: Von denen, die immer richtig nah an der Mannschaft und dort uneingeschränkt beliebt waren, sind zwei allein zu nennen. Für Horst Theiß, 2021 leider früh verstorben, waren die Grün-Weißen über Jahrzehnte seine Familie; für den Erdaer Stefan Rühl seit 20 Jahren praktisch sein »Zweitjob«, den er noch immer mit Herz und Leidenschaft ausfüllt.
Die Trainer: Zu Wetzlarer Trainer-Ikonen sind ohne Widerspruch Velimir Petkovic (1998-2004) sowie Kai Wandschneider (20012-2021) geworden. Mit Michael Roth (2009/2010) und Martin Schwalb (2005/2006) atmete Mittelhessen kurz große Handball-Luft, Holger Schneider (2004/2005), Volker Mudrow (2007-2009) und Benjamin Matschke (2021/2022) wurden ihren Vorschusslorbeeren nicht gerecht.
Die ganz großen Stars: Dass der »Mozart des Handballs«, Ivano Balic, das Bundesliga-Trikot der HSG Wetzlar getragen hat, bleibt ebenso unvergesslich wie im Premierenjahr die Verpflichtung vom späteren Weltmeister Markus Baur, die fünf Jahre von Europameister Kristian Björnsen sowie das Wirken von Welttorhüter Jose Hombrados.
Charaktere: Eigentlich unfassbar, wer sich bei der HSG Wetzlar alles in die Herzen der grün-weißen Fans gespielt hat: Sigurdur Bjarnason, der Unbeugsame. Nebosja Golic, das Schlitzohr. Kreislauf-›Brummi‹ Giorgios Chalkidis. Timo Salzer, der Stoiker. Maximilian Holst, die Siebenmeter-Police. Evars Klesniks, der Defensivdenker. Olle Forsell-Schefvert, der emotionale Leader. Jens Tiedtke, der vorbildliche Kapitän.
Karrierestarter: Der Blick, Talente weiterzuentwickeln, hat die HSG über Jahre hinweg ausgezeichnet. Aus dem aktuellen Kader wurden Stefan Cavor und Lenny Rubin zu gestandenen Bundesliga-Kräften. Der norwegische Linkshänder Kent Robin Tönnesen machte international ebenso Karriere wie Torhüter Andreas Wolff und Kreisläufer Jannik Kohlbacher, neben Steffen Fäth 2016 Europameister. Benjamin Buric gehört zu den besten Erstligatorhütern, Tobias Reichmann machte auf Rechtsaußen den nächsten Schritt.
Wurfmaschinen: Von Damir Radoncic und Blažo Lisicic über Gennadij Chalepo zu Lars Kaufmann und Sven Sören Christophersen hatten die Mittelhessen im ersten Erstliga-Jahrzehnt stets torgefährliche Halbspieler. Daniel Valo, Steffen Fäth, Michael Müller, Philipp Weber und Stefan Cavor schlossen sich an.
Exoten: Wer erinnert sich noch an die Israelis Avishay Smoler und Chen Pomeranz? Bestimmt aber an die Griechen Alexis Alvanos und Savas Karipidis! Den Finnen Björn Monnberg oder den Portugiesen João Ferraz. Das Management war nie um eine handball-unübliche Idee verlegen.
Local Heros: Von wegen den Wetzlarer Bundesliga-Teams fehlten die regionalen Talente und Leistungsträger: Mit Nikolai Weber, Till Klimpke, Florian, Laudt, Volker Michel, Sebastian Weber, Thomas »Turbo« Schäfer, Michael Allendorf, Kevin Schmidt, Timm Schneider, Mario Clößner, Axel Geerken, Gregor Werum u. v. a. m. ließe sich schon eine ordentliche Erstliga-Truppe zusammenstellen.
Große Momente: Der erste Erfolg in der Bundesliga-Geschichte überhaupt am 30. September 1998 beim 22:19 gegen den SC Magdeburg. Der 30:29-Triumph am 2. Juni 2007 wieder gegen den SCM, der am letzten Spieltag den Klassenerhalt bescherte. In der letzten Wandschneider-Saison das 31:22 gegen Kiel sowie 2019/20 das schier unglaubliche 27:20 (!) beim Rekordmeister. Der erste Sieg beim Hessenrivalen MT Melsungen nach fast zehn gemeinsamen Erstliga-Spielzeiten im März 2014 (32:24). Der Abschied von der Sporthalle Dutenhofen mit einem knappen 30:29 gegen den Wilhelmshavener HV am 19. Februar 2005. Der Einzug in die Rittal-Arena am 13. März 2005 vor fast 5000 Zuschauern das 27:28 gegen die seinerzeit noch bestehende SG Wallau/Massenheim.
Anekdoten: Zum großen THW Kiel musste die HSG in der Ära Petkovic verletzungsbedingt zweimal mit einer Rumpftruppe antreten - und weil Spielern aus der Jugend der Weg und Zeitaufwand zu enorm war. »Petko« seinerzeit: »Ich wäre barfuß nach Kiel gelaufen …« In den Anfangsjahren war die Dutenhofener Sporthalle nicht nur die längste Theke Mittelhessens, sondern einige Spieler auch richtig trinkfest. Ein besonders dem Weißbier zugewandter Aufbauspieler wurde schon einmal Sonntag früh um 5 Uhr ordentlich betankt von Trainer Petkovic aus einer Heuchelheimer Kneipe geholt, weil um 17 Uhr auswärts eine Bundesliga-Partie auf dem Plan stand. Und da war noch die Suche des Autors nach einem Interview-Partner nach einer Partie bei den RN Löwen - und er fand gleich mehrere direkt nach dem Spiel hinter der SAP-Arena bei ihrer »Raucherpause«.