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Wetzlar sitzt die Angst im Nacken

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Von: Ralf Waldschmidt

Wetzlar (ra). Das ganze ist ein Prozess. Im Umbruch-Sommer 2022 ist das allen Beteiligten klar gewesen. Zu lange darf er aber nicht dauern bei der HSG Wetzlar. In der Handball-Bundesliga zählen Punkte. Nach dem 29:30 gegen VfL Gummersbach ist das grün-weiße Konto noch immer leer.

Benjamin Matschke, mit der HSG Wetzlar mit 0:8-Punkten ausgerechnet in die 25. Jubiläumssaison fehlgestartet, verkörpert die neue Trainer-Generation der Mutmacher, der Zuversichtlichen, der Motivierenden. »Wir werden den Weg weitergehen, den wir begonnen haben«, resümierte der Handball-Lehrer nach der bedenklichen 29:30-Niederlage gegen den VfL Gummersbach. »Ich habe sehr viel gewechselt, deshalb ein Lob an die Spieler, die gekommen sind und die Impulse gesetzt haben. Wenn ich an Jovica Nikolic und Jonas Schelker denke. Ich weiß, dass sich die Mannschaft irgendwann belohnen wird.«

Der 40-Jährige weiß um die Langfrist-Mission, die er im Sommer 2021 als Nachfolger von Kai Wandschneider angetreten hat; der gebürtige Heilbronner weiß um die Schwere der Verjüngungs-Aufgabe, die er im Sommer 2022 in Angriff genommen hat. Deshalb stellt sich Matschke trotz bereits 130 Gegentreffern in erst vier Spielen vor seine Mannschaft, bettet die eine oder andere individuelle Kritik an Leistungsträgern ein in aufbauende Teamchemie (»Wir machen es wie immer, dass wir uns gegenseitig bei Ups and Downs unterstützten«) und stärkt das Selbstvertrauen, indem er die positiven Erkenntnisse hervorhebt.

Den Blick für die Liga-Realität darf der Chefcoach aber auch nicht aus den Augen lassen. Klar hätte Adam Nyfjäll frei vom Kreis verwandeln und sechs Minuten vor Schluss den Sack fast schon zumachen können. Natürlich waren die drei Holztreffer von Vladan Lipovina und Jonas Schelker Pech. Fraglos landeten zweite bzw. abgefälschte Bälle unglücklicherweise mehrheitlich bei den Oberbergischen.

In der Summe sind es aber noch immer die Wetzlarer Unzulänglichkeiten, mit denen sich die Grün-Weißen in der Tabelle nach unten manövrieren. »Nach dem 29:27 bekommen wir vorne einfach keinen mehr rein. Das ist bitter«, gibt sich Lars Weissgerber ernüchtert. Der Rechtsaußen holt sich wenigstens noch über seine gute Siebenmeter-Quote Selbstvertrauen. Andere weniger. »Ich glaube, je länger du keine Punkte hast, desto höher wird der Druck« und kommt ohne Umschweige auf das grün-weißes Kernproblem: »Wir bestrafen uns mit den vielen technischen Fehlern doppelt, weil der Gegner dadurch zu einfachen Treffern gelangt.«

Fatale Abspielfehler

70 technische Fehler in nur vier Partien ist alles andere als erstliga-like. Wiederholt unterlaufen fatale, auf diesem Niveau brutal bestrafte Abspielfehler direkt in die Hände der Kontrahenten durch einen seit Wochen komplett neben sich stehenden Spielmacher Magnus Fredriksen, dem wie vielen seiner Teamkollegen die Angst vor einem Fehler im Nacken zu sitzen scheint. Und wenn selbst acht Paraden allein vor der Pause von Torhüter Till Klimpke nicht in ein wirkungsvolles Gegenstoßspiel umgesetzt werden (erstmals beim Mellegard-22;20, 38.), wird es gegen jeden Bundesliga-Kontrahenten schwer.

Vor allem gegen einen VfL Gummersbach, bei dem mit einem beweglichen, nahezu jede Spielsituation erfassenden Dominik Mappes am Regiepult ein Akteur wirkte, der nicht zum ersten Male die Frage aufwarf, weshalb dieser extrem fähige ›Local Hero‹ nicht schon seit Jahren das Wetzlarer Trikot trägt. »Es war ein brutal intensives Spiel«, erklärte Mappes, der der HSG mit zehn Treffern enorm zugesetzt hatte, »wir haben letzte Woche gegen Hamm schon gesehen, dass wir klare Rückstände noch aufholen können. Wir wussten, Wetzlar hat mehr Druck auf dem Kessel. Wir mussten also cool bleiben, das haben wir getan und am Ende die richtigen Entscheidungen getroffen.« Vor allem der 27-Jährige selbst. Gummersbach siegte dank der Mappes-Show, derweil es auf der Mitte-Position der Wetzlarer phasenweise so aussah, als mühe sich ein Kermit wie bei der Muppet Show, das Chaos im Rahmen zu halten.

Wetzlar agierte im Gegensatz zum Gummersbacher Sigurdsson-Stil flügellos. Die vermeintlichen Leistungsträger von Adam Nyfjäll und Erik Schmidt über Magnus Fredriksen und Emil Mellegard bis hin zu Hendrik Wagner und Lenny Rubin/Vladan Lipovina sind ungewohnt lange auf Formsuche. Dem Innenblock, dort wo das Herz der Abwehr schlägt, fehlt in der Nach- Schefvert-Danner-Henninggsson-Ära ein Schrittmacher und vor allem einer, der - wie auf der Gegenseite Stepan Zeeman - auch einmal »zupackt« bzw. der aus dem Videostudium hinlänglich bekannten Schlagwurfvariante von Mappes auf sechs Metern verharrend nicht tatenlos zuschaut.

Zu allem Überfluss kommt in dieser schwierigen Situation noch der halbleere »Steher« auf den Arena-Rängen. Selbst beim so hoffnungsvollen 26:23 (48.) musste Trainer Benjamin Matschke mit eindeutigen Bewegungen das Publikum zu mehr Lautstärke animieren. Auch da hatte die VfL-Hundertschaft Vorteile, auch hier verteilte der Coach später Lob anstatt diese (Negativ-)Realität zumindest zu erwähnen. Den selbstgewählten Ruf als ›Bestes Publikum der Liga‹ muss der grün-weiße Anhang auch erst wieder bestätigen.

Lichtblicke sowie die Beschleunigung des Verjüngungsprozesses waren ein Till Klimpke auf dem Weg zu alter Stärke, ein couragierter Jonas Schelker und Holst-Nachfolger Lars Weissgerber vom Punkt. Wenigstens das.

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