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Der Anker

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Bundestrainerin Martina Voss-Tecklenburg hat mit ihrem Team noch viel vor. © IMAGO

Erst kürzlich, das erzählt Martina Voss-Tecklenburg fast am Ende des Gesprächs, war sie wieder unendlich stolz. Auf sechs Nationalspielerinnen, die spontan zu Zeugwart Steve Smith gingen, der im Syon Park von Brentford in seiner Kammer einen Berg schmutziger Wäsche vor sich liegen hatte. Der US-Amerikaner gilt als die gute Seele der deutschen Delegation.

Gemeinsam war der Haufen in Windeseile wegsortiert.

Es sind kleine Dinge, die bei Fußball-Turnieren etwas Großes wachsen lassen. Und wenn alle gemeinsam anpacken, dann wird Deutschlands Frauen-Nationalteam auch das EM-Viertelfinale gegen Österreich heute (21 Uhr/ARD) meistern. Davon ist die Bundestrainerin überzeugt, die erstmals abseits der Pflichttermine in England über ihre Arbeit und ihre Person gesprochen hat. Der Wandlungsprozess ist offenkundig. Die 54-Jährige ist jetzt viel mehr Anker als bei der WM 2019, die mit dem Viertelfinal-Aus gegen die Schwedinnen (1:2) an jener Stelle endete, an der der achtfache Europameister und zweifache Weltmeister jetzt wieder steht. Im langen Vorlauf auf jenes K.-o.-Duell im französischen Rennes verzettelte sich auch Voss-Tecklenburg, die eine überraschende Aufstellung wählte. Nach einem Rückstand war ihr Ensemble mittellos. Und die Trainerbank ratlos. Woran es gelegen hat? Die Kenntnis über Stärken und Schwächen jeder Einzelnen, gerade in Drucksituationen, sei damals noch nicht vorhanden gewesen: »Wir hatten Spielerinnen, die nur bemüht waren, die Rollen anzunehmen, die das aber nicht erfüllen konnten.« Quintessenz: »Wir waren 2019 in vielen Bereichen noch nicht so weit.« Auch zwischenmenschlich hakte es. Die vom DFB ausgewählte, inzwischen eng an sie gebundene Assistentin Britta Carlson, der aus der Zeit von Horst Hrubesch übernommene Thomas Nörenberg, der aus der Schweiz mitgebrachte Patrik Grolimund, brachten unterschiedliche Herangehensweisen mit.

Beim ersten Lehrgang im Winter 2019 in Marbella hätten alle wild durcheinander etwas hineingerufen. Heute schmunzelt die Bundestrainerin drüber. Der Findungsprozess war mühsam - und Voss-Tecklenburg eine Treiberin. Treffen im Schwarzwald, Teamevent auf einer Hütte oder auch ein Gin-Testing halfen, um sich besser kennenzulernen. Ihr Credo: »Wir brauchen erst Klarheit bei uns, bevor wir Klarheit bei den Spielerinnen verlangen.«

Voss-Tecklenburg hat gebraucht, um ihre Rolle für sich zu fassen. Und die 125-fache Nationalspielerin hat es sich abgewöhnt, mit dem erhobenen Zeigefinger herumzulaufen. Heutzutage wollen die Spielerinnen mehr Feedback haben. Der Perspektivwechsel, erklärt sie, schaffe Vertrauen. Nur überall kann sie sich nicht ändern. Mag sie gerade entspannt rüberkommen, werden ihre Emotionen doch stets Teil von ihr bleiben. Wenn sie am Spielfeldrand schreie, sei das keine konstruktive Hilfe, »die Anweisungen müssen klar und sauber sein«. Auch da wähnt sich eine fast rastlose Persönlichkeit weiter. Nur muss selbst eine Powerfrau vom Niederrhein mal runterfahren. Nach dem Aufstehen gegen 6.45 Uhr geht sie im Teamhotel morgens eine halbe Stunde Schwimmen. Die erste Sitzung nach dem Frühstück startet um 9.15 Uhr. Abends »wird dann wieder oft Fußball geschaut«. Sie geht meist als eine der Letzten ins Bett, weil sie gerne Karten spielt, mit Leuten aus dem Staff redet und in die Gruppe hineinhorcht, für die sie nach außen spricht. FRANK HELLMANN

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