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Der »mit den Händen sieht«

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Dr. Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt im März 2022 auf einer Vorlesung in Köln - heute feiert er seinen 80. Geburtstag. © IMAGO

(sid). Die 100 Meter, so behauptete Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt einst, sei er früher in elf Sekunden gelaufen. Um ihm das zu glauben, reicht es, den gebürtigen Ostfriesen auch nur einmal in Aktion gesehen zu haben. Wie er im Vollsprint, Arztkoffer in der Hand, mit wehendem Haar über den Rasen lief, während sein Physio verzweifelt versuchte, irgendwie zu folgen.

Jenes Bild des Mannes, der am Freitag seinen 80. Geburtstag feiert, hat sich bei vielen Fans von Bayern München und der deutschen Nationalmannschaft eingeprägt. »Er ist eine Kultfigur«, sagte der frühere Bayern-Coach Jupp Heynckes mal über »Mull«: »Ein Phänomen als Arzt und als Mensch.«

Über die Jahre entstand ein echter Mythos um den »Wunderheiler«. Müller-Wohlfahrt kann »mit den Händen sehen« - der Titel seiner 2018 erschienenen Autobiografie. Es heißt, Verletzungen könne er auf wundersame Weise ertasten. Für seine Diagnosen verzichtet er auf jegliche Maschinen, diese benutze er nur »für die Versicherung, weil die nicht glaubt, dass man nur mit den Händen diagnostizieren kann«.

Wegen derartiger Äußerungen ist Müller-Wohlfahrt bei Kollegen nicht unumstritten - und wegen seiner Vorliebe für das Präparat Actovegin. Es fördert Wachstum und Vermehrung von Muskelzellen, ist aber, sofern es nicht intravenös gespritzt wird, nicht illegal. Die Anwendung ist in der Medizin umstritten. Travis Tygart, Chef der US-Anti-Doping-Agentur, bezeichnete den Einsatz des Präparats mal als »Frankenstein-Experiment«.

Die Spieler des FC Bayern, Frankenstein hin oder her, vertrauten Müller-Wohlfahrt dennoch - und nicht nur die. Usain Bolt widmete seinem »wundervollen Arzt« seine olympischen Goldmedaillen 2016. Ohne seinen »Doc« wäre die Karriere des Supersprinters wohl schon früher zu Ende gewesen. Auch Boris Becker, Katarina Witt oder Sven Hannawald zählten zu dessen Patienten.

Doch auch intern fanden wohl nicht alle immer so positive Worte wie Bolt. Gerade bei Bayern-Fans unvergessen bleibt die Fehde mit dem ehemaligen Münchner Trainer Pep Guardiola. Der eitle Spanier und der eitle Ostfriese vertrugen sich nicht, im April 2015, nach beinahe 38 Jahren bei den Bayern, warf Müller-Wohlfahrt schließlich hin. 2017, Guardiola war bereits nach Manchester weitergezogen, kehrte er noch einmal zurück.

2018 beendete Müller-Wohlfahrt nach 23 Jahren seine Karriere in der Nationalmannschaft, zwei Jahre später zog er sich auch vom FC Bayern zurück, seine Praxis in der Münchner Altstadt betreibt er bis heute. Er sei »getrieben«, erklärte der Mann mit den sehenden Händen einmal. Ruhestand habe »keinen Sinn«, solange er gefragt sei. Für ihn gehe es »immer vorwärts«. Auch mit 80 Jahren noch im Vollsprint.

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