Gegen die Wand

Am Abstieg aus der A-Kategorie der Nations League hat die Fußball- Nation England vor dem Klassiker gegen Deutschland schwer zu knabbern.
Noch immer bekommen Fußballfans aus aller Welt beinahe Herzflattern, wenn sie von der London Underground an der Station Wembley Park die Treppen zur Empore nehmen, die freien Blick aufs Heiligtum eröffnet. Die alte Konstruktion wurde vor fast genau 22 Jahren abgerissen - nach einer 0:1-Niederlage Englands gegen Deutschland. Dietmar Hamann verdarb damals den Briten ihren Abschied vom Mythos, der immer noch mitspielt, wenn sich diese stolzen Fußball-Nationen nun wieder begegnen.
Das Schmuckkästchen mit seinen 90 000 Plätzen ist für den Klassiker England gegen Deutschland (heute, 20.45 Uhr/RTL) ausverkauft. Konnte ja niemand ahnen, dass die Würfel in dieser Nations-League-Gruppe schon gefallen sind: Die Three Lions können machen, was sie wollen: Der Abstieg aus der A-Kategorie ist nicht mehr abzuwenden.
Die Stimmung ist schlecht - und dazu braucht es nicht mal die Blätter, die mit Stimmungsmache ihre Auflage steigern. Der für seine seriöse Berichterstattung geschätzte Sender BBC nennt die Rückversetzung in die B-Liga »beschämend«. Nicht mal zwei Monate vor WM-Start läuft England »zum ungünstigsten Zeitpunkt gegen die Wand«, schreibt der »Guardian«.
Es müsste schon alles passen, dass auf den roten Schalensitzen wieder jener Gefühlsrausch zustande kommt, der zuletzt zweimal bei Länderspielen gegen den Erzrivalen zu spüren war: Nach dem EM-Achtelfinale der Männer (2:0) am 29. Juni 2021 spielten sich dieselben Jubelszenen ab wie nach dem EM-Finale der Frauen (2:1 nach Verlängerung) am 31. Juli dieses Jahres. Eine solche Feierstunde scheint bei der derzeitigen Verfassung der englischen Elf so unwahrscheinlich wie eine Aufhebung der Sperrstunde in Londoner Pubs.
Southgate unter Druck
Den Zorn der Fans zieht Gareth Southgate auf sich. Nur ein einziges Elfmetertor von Torjäger Harry Kane in den vergangenen fünf Länderspielen stellt vieles infrage. Dass der Nationaltrainer nach der Niederlage in Italien (0:1) davon sprach, »dass die Leistung ein Schritt in die richtige Richtung war«, sorgte für Spott. Wer die peinliche 0:4-Pleite gegen Ungarn als Gradmesser nimmt, hat vielleicht Recht. Aber der von sich überzeugte Southgate (»Ich bin der Richtige!«) ist nicht dumm. Er weiß, dass er mit solchen Aussagen den Fokus verlagert. »Wenn die Reaktionen sich auf mich richten, ist das total in Ordnung, weil ich 52 bin und so gut wie alles durchgemacht habe. Es ist mein Job, den Druck von den Spielern zu nehmen.« Und er versicherte am Wochenende: »Es gibt viele positive Signale von uns als Mannschaft. Wir werden das zurechtrücken.« Dass die ersten Medien über mögliche Nachfolger spekulieren (u. a. Thomas Tuchel), kann er vorerst nicht verhindern.
Nicht vergessen werden darf: Gleich bei seinem ersten Turnier, der WM 2018 in Russland, führte der Ex-Nationalspieler England bis ins Halbfinale. Bei der EM 2021 schaffte es sein Team sogar bis ins Finale, doch im entscheidenden Moment setzte das traditionelle Nervenflattern ein, das im Elfmeterschießen in ein Trauerspiel mündete. Warum Southgate ausgerechnet die bis dato kaum eingesetzten Marcus Rashford und Jadon Sancho sowie den 19-jährigen Bukayo Saka an den Elfmeterpunkt schickte, wird wohl immer sein Geheimnis bleiben.
Danach spielte England immerhin eine souveräne WM-Qualifikation, hat aber jetzt Baustellen zuhauf. Die Formsuche bei Abwehrchef Harry Maguire, die ausgekugelte Schulter bei Abräumer Kalvin Philipps bereiten Probleme in der Defensive, in der Offensive findet Southgate bislang kein passendes Personalpuzzle.
Hinter Kapitän Kane gibt es viele, die enormes Potenzial mitbringen, aber sich gerade viel zu selten durchsetzen. Vielleicht aber wissen Raheem Sterling, Phil Foden oder Jack Grealish auch: Letztlich werden sie nicht daran gemessen, was sie in der Nations League leisten. Sondern bei der WM, die für England mit einem vermeintlich lösbaren Auftaktspiel gegen den Iran beginnt. Dass in dieser Gruppe neben Wales auch noch die USA spielen, soll bei den Sicherheitsbehörden im Wüsten-Emirat übrigens auch Herzflattern ausgelöst haben. MIT DPA