Mit Wut im Bauch

Die deutsche Nationalmannschaft soll gegen Ungarn und England gewinnen, um sich für die WM in Katar und die EM im eigenen Land Rückenwind zu holen.
Es ist unüblich, dass ein leibhaftiger deutscher Fußball-Bundestrainer sich vor dem Training aufmacht zur Medientribüne, um den dort im Herbstwind ausharrenden Reportern zu erläutern, dass sie an diesem Tag nicht nach einer Viertelstunde weggeschickt werden, sondern der Übungseinheit der Nationalmannschaft bis zum Schluss beiwohnen dürfen. Flicks Erlaubnis war der Tatsache geschuldet, dass aus gegebenem Anlass sämtliche der 500 Angestellten des Deutschen Fußball-Bundes eingeladen worden waren, dem ersten Training einer deutschen Männer-Nationalmannschaft auf dem Gelände des neuen Campus in Frankfurt beizuwohnen. Da durften die Journalisten nicht schlechtergestellt werden.
Auf dem Geviert ging es zur dualen Vorbereitung auf zwei Spiele der Nations League und die alsbald stattfindende WM in Katar zünftig zu. Jamal Musiala musste nach gewonnenem Zweikampf und anschließender Kollision mit Thomas Müller mit einem Verband um die Wade vorzeitig in die Großraum-Kabine schlurfen, gab aber bald Entwarnung: nichts Schlimmes passiert.
Musiala und Müller gehören gemeinsam mit Kimmich, Leon Goretzka, Manuel Neuer, Serge Gnabry und Leroy Sané zur ein wenig zerzaust aus München angereisten Reisegruppe. Es läuft bei den Bayern ja gerade nicht ganz rund. »Man ärgert sich schon brutal«, beschrieb Kimmich nach getaner Trainingsarbeit die magere Ausbeute der vergangenen Bundesligawochen.
Manager Oliver Bierhoff spürt »bei dem einen oder anderen« gar »Wut im Bauch« und meint damit auch die verkorksten Turniere 2018 und 2021. Sollte diese Wut bei den Spielen am Freitag in Leipzig gegen Ungarn (20.45 Uhr/ZDF) und Montag in London gegen England (20.45 Uhr/RTL) sorgsam kanalisiert werden, wäre das Flick nur allzu recht. Der Chefcoach möchte nämlich aus der nicht ganz unkomplizierten Gruppe mit dem derzeitigen Tabellenführer Ungarn, England und Italien als Sieger hervorgehen. Das wäre »ein Statement«, erläutert Bierhoff und sieht dabei hoffnungsfroh aus.
Ein echter Knipser fehlt
Dem DFB-Team würde dieses Statement ein Final-Four-Turnier im Juni 2023 gegen große Gegner bescheren, was deshalb hilfreich wäre, weil die Mannschaft nach der WM in Katar keine Pflichtspiele mehr im Programm hat. Sie ist als Gastgeber für die EM 2024 automatisch qualifiziert. Und natürlich auch für die Grundstimmung im Vorlauf des umstrittenen Turniers im Wüstenemirat (20. November bis 18. Dezember) wären zwei Siege eine schöne Sache. »Man kann viel erzählen«, sagt Flick, »wenn die Ergebnisse nicht stimmen, sinkt irgendwann die Überzeugung. Deshalb macht ein 2:1 im Vergleich zu einem 1:1 einen großen Unterschied.« Flick weiß, wovon er spricht: Nach vier 1:1-Remis gegen die Niederlande, Italien, England und Ungarn in Folge war im Sommer schon leises Murren zu vernehmen gewesen.
Flick wirkt seit Übernahme des Bundestraineramtes und mittlerweile 13 Spielen ohne Niederlage ohnehin ja meistens so, als könne ihn nichts aus der Ruhe bringen. Der 57-Jährige macht sich ob der aktuellen Bayern-Malaise und einer lediglich einwöchigen Vorbereitungszeit Mitte November auf die WM »keine Sorgen«, auch deshalb, weil die meisten seiner Auserwählten aus Topvereinen kommen, »in denen ein ähnlicher Fußball gespielt wird wie bei uns«. Auch Kimmich verweist auf »ähnliche Prinzipien« bei den Bayern und im Nationalteam.
Das klingt erst einmal verlockend, birgt aber die latente Gefahr des sogenannten Chancenwuchers. Denn sowohl im Klub als auch im Land fehlt ein echter Knipser. Kimmich ärgerte sich nach der Morgeneinheit: »Das Trainingsspiel war wieder sinnbildlich: Wir hatten eine Vielzahl von Chancen und haben am Ende verloren.« Timo Werner rannte zwar ein paarmal mit Ball am Fuß aufs Tor zu, konnte aber regelmäßig noch gestoppt werden.
In Flicks WM-Masterplan ist der Leipziger die zentrale Figur im Angriff, sollte dann aber den Torriecher besser wieder angeschaltet haben. Auf der Zugfahrt am Donnerstag in Werners alte und neue Heimat bleibt ausreichend Zeit für Gespräche.