Möwen und Zweifel vertrieben

Englands Fußballerinnen demonstrieren auf dem Weg nach Wembley im EM-Viertelfinale gegen Spanien in Brighton eine besondere Mentalität. Sie drehen einen Rückstand und gewinnen mit 2:1.
Am Ende hatte das Gejohle, Gekreische und Geschrei auch die letzte Seemöwe vertrieben. Im Falmer Stadium sorgte ein buntes Publikum aus Männern, Frauen und Kindern am Mittwochabend dafür, dass sich selbst das Wappentier des Premier-League-Klubs Brighton & Hove Albion (»The Seagulls«) nicht mehr zu nahe an 28 994 restlos begeisterte Fans wagte.
Der ausufernde Jubel über den Kraftakt von Englands Fußballerinnen im EM-Viertelfinale gegen ein technisch und taktisch lange überlegenes Spanien (2:1 nach Verlängerung) dröhnte vermutlich noch bis an die weit entfernte Seebrücke. Am Tag danach lief in den Nachrichtensendern noch jene Szene, in der BBC-Expertin Alex Scott auf ihrer Empore vor lauter Begeisterung beinahe über die Brüstung gekippt wäre. Doch auch das ist gerade noch einmal gut gegangen.
»Three Lionesses« stehen zum vierten Mal hintereinander bei einem großen Turnier im Halbfinale, das anders als bei der WM 2015, EM 2017 und WM 2019 diesmal nicht mehr Endstation sein soll. Über Sheffield ins Finale nach Wembley, um am letzten Juli-Sonntag auf dem heiligen Rasen die Trophäe zu empfangen. Dann hätten Englands Frauen ihren ersten Titel - und es nebenbei noch besser gemacht als die Männer im Vorjahr.
Dieses hochintensive K.-o.-Duell gedreht zu haben, zauberte Trainerin Sarina Wiegman ein breites Lächeln ins Gesicht. »Ich bin stolz auf die Mentalität meines Teams.« Anders als gegen Österreich (1:0), Norwegen (8:0) und Nordirland (5:0) galt es erstmals, heftigen Widerstand zu überwinden, als nach dem Rückstand von Ester Gonzaléz (54.) Antworten zu finden waren, die in keinem Playbook stehen. Lange waren beim englischen Team sogar Parallelen zum deutschen Aus bei der Heim-WM 2011 zu besichtigen, so verkopft und verkrampft ging die eigentlich eingespielte Stammelf zu Werke.
Deshalb griff die gerade von ihrer Corona-Infektion genesene Wiegman ein: Die mit viel Coolness ausstaffierte 52-Jährige winkte ihre Rekordtorjägerin Ellen White (52 Länderspieltore) und beste EM-Torschützin Beth Mead (fünf Turniertreffer) vom Feld.
Vermutlich hätte sich die niederländische Fußballlehrerin bis zu ihrem Lebensende vor britischen Boulevard-Reportern rechtfertigen müssen, wenn das schiefgegangen wäre. Hinterher sprach Wiegman davon, als sei die Wende wie selbstverständlich gelungen: »Wir haben so viel Qualität in unserer Mannschaft, dass es einfacher ist, Auswechslungen vorzunehmen, weil man weiß, dass die neuen Spielerinnen den Unterschied machen können.«
Eine Koproduktion zweier Einwechselspielerinnen bescherte England den Ausgleich: Alessia Russo legte per Kopf vor, Ella Toone rauschte zum 1:1 heran (84.). Die französische Schiedsrichterin Stéphanie Frappart wollte da trotz eines grenzwertigen Ellbogeneinsatzes nicht stören; zumal ihre VAR-Helfer Pol van Boekel und Dennis Higler, zwei Landsleute Wiegmans, keinen Bedarf sahen, die Szene checken zu lassen. Vermutlich hätte das Stadioninventar die Rücknahme des Ausgleichstreffers auch nicht überstanden. So aber wackelten wieder die Tribünen, als Georgia Stanway mit einem krachenden Fernschuss das 2:1 besorgte (96.).
Ein Happy End wie in einem Hollywood-Streifen. »Stanway to Heaven«, titelte das Boulevardblatt »Sun«. Von einer »Rakete« schwärmten »Telegraph« und »Independent«.
Alles in allem hat England jetzt alle Zutaten für den Titelfavoriten, sodass die größte Gefahr das im Alltag auf der Insel ansonsten weitgehend ignorierte Coronavirus ist.
Dass sich nach der bislang aufregendsten Begegnung dieser EM viele Eltern mit Kindern bereits nach der ersten Halbzeit der Verlängerung auf den Heimweg machten, besaß allein pragmatische Gründe. Die South Western Railway ist mit ihren oft überpünktlichen Zügen zwar ein leuchtendes Vorbild für die Deutsche Bahn, trotzdem wurde an den Abfahrten Richtung London nicht gedreht, nur weil da eine im Fahrplan nicht eingepreiste Extra-Time gespielt wurde. Viele Anhänger verpassten ihre Anschlüsse gen London, sodass tief in der Nacht auch noch so mancher Taxifahrer laut gejubelt hat.