Von der Provinz auf Europas Thron?

»The Journey«, die Reise, wie die treuen Fans der Glasgow Rangers die Odyssee nennen, die am Mittwochabend (21 Uhr/RTL) im Europa-League-Endspiel gegen Eintracht Frankfurt münden wird, begann vor bald zehn Jahren. Im August 2012, die Rangers gerade erst zwangsversetzt in Schottlands vierte Liga, der erfolgreichste Klub des Landes plötzlich nur noch ein Rivale von Amateuren, etwa dem FC East Stirlingshire, heute sogar nur fünftklassig am Ball, und damals der erste Gast der Saison im berühmten Ibrox Stadium.
Locker mit 5:1 gewannen die Rangers, alleine Andy Little - wer kennt ihn nicht, diesen ehemaligen nordirischen Nationalstürmer? - erzielte drei Treffer.
Das Besondere: Mehr als 49 000 Fans besuchten die Arena. Der Heimspielschnitt lag am Ende der Saison bei rund 45 000 - herausragend in harten Zeiten. Zuvor hatten Unternehmer an der Spitze des Klubs versucht, mit Steuern zu tricksen, hatten eine Menge Schulden angesammelt und den Verein in die Insolvenz geführt.
Die Glasgow Rangers haben wahrlich viele Titel gewonnen in ihrer 150-jährigen Vereinsgeschichte, gleich 55-mal die nationale Meisterschaft, europaweit sind sie damit Rekordhalter, dazugesellen sich 33 nationale Pokalsiege, vor nunmehr 50 Jahren zudem der Triumph im Europapokal der Pokalsieger gegen Dynamo Moskau (3:2). Weil Rangers-Fans im Jubel-Eifer den Platz stürmten und es auf den Tribünen zu diversen Handgreiflichkeiten kam, konnte den Spielern der Pokal jedoch nur in der Kabine überreicht werden. Eines aber hatten die Rangers bis vor der Saison 2012/13 noch nie gewonnen: eine Viertligameisterschaft. Auch etwas wert - was nicht mal ironisch zu verstehen ist.
Denn die Saison in der Provinz, das vermeintlich lästige Tingeln über die Dörfer, das fußballerische Wetteifern von Halbprofis mit Amateuren, steckt bis heute tief drin in den Erinnerungen der Fans, spielt vor dem großen Finale gegen die Eintracht eine wichtige Rolle. Sie wissen seit damals, die Erfolgsverwöhnten, die sich in heimischen Gefilden ernsthaft nur mit dem Stadtrivalen Celtic im aufgeladenen Duell der Protestanten mit den Katholiken balgen konnten, wie es sich anfühlt, sportlich von einen auf den anderen Tag im Grunde unbedeutend zu sein. Ein Verein ohne Geld, ohne ernsthaften Wettbewerb zu sein.
Daraus ziehen sie, die so gerne eigentlich in der englischen Premier League mitspielen und damit ihre weiterhin vorhandenen finanziellen Sorgen weitestgehend ablegen würden, einiges an Kraft. Sie wissen, dass sie gemeinsam Täler durchschreiten können und am Ende gestärkt daraus hervorgehen. Die Mannschaft natürlich ist jetzt eine gänzlich andere als damals, der Spirit aber, gemeinsam gegen den Rest der Fußballwelt anzukämpfen, ist geblieben.
Vergangene Saison hob Trainer Steven Gerrard, eine Liverpooler Legende, »The Gers« sportlich auf ein höheres Niveau, holte die erste Meisterschaft seit dem Absturz 2012, implementierte vor allem ein Spielsystem, von dem der Nachfolger Giovanni van Bronckhorst (Gerrard ist mittlerweile bei Aston Villa angestellt) bis jetzt profitiert.
Die Rangers, die am Samstag mit einer B-Elf locker 3:1 gegen Heart of Midlothian gewannen, agieren international gerne aus einer eher abwartenden Haltung heraus. In der Europa League kommen sie bei ihren sechs Siegen, drei Remis und fünf Niederlage (erstaunlich für einen Finalisten) lediglich auf 47,79 Prozent an Ballbesitz - die Eintracht weist einen ganz ähnlichen Wert auf (47,67 Prozent).
Es wird somit nicht ganz unbedeutend für den Ausgang des Finals von Sevilla sein, wer denn nun die Ballhoheit gewinnen wird oder ob womöglich ein Team dem anderen diese gar freiwillig überlässt. Stärken im Pressing und Schwächen im eigenen Ballbesitz sind jedenfalls beiden Mannschaften nicht fremd. Glasgow ist eine laufstarke Mannschaft, die mit britischer Härte verteidigt und gerne aus einer sicheren Deckung heraus überfallartig über die Seiten attackiert. Fernab dieser taktischen Mittel aber werden die Rangers vor allem eines gegen die Eintracht in die Waagschale werfen: Die Gewissheit, harte Jahre in der Niederungen des Fußballs überstanden zu haben. Das Ende der Odyssee soll nur der Anfang einer Traumreise sein. D. Schmitt