Energiekrise: Nachfrage runter, Angebot rauf - und Zielkonflikte offen diskutieren
Der Wegfall russischer Gaslieferungen lässt sich nicht vollständig durch andere Gasimporte ersetzen. Zur Sicherung der Energieversorgung muss die entstehende Lücke jetzt rasch geschlossen werden - und das ohne ideologische Scheuklappen, schreibt Prof. Christoph M. Schmidt, Präsident des RWI, im Gastbeitrag.
Essen – Deutschland befindet sich in einer akuten Energiekrise. Zwar wurde sie durch ein von Dritten begangenes Unrecht, den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, ausgelöst. Wir haben uns aber vor allem durch eigene Weichenstellungen in diese missliche Lage gebracht.

Es wird nun nicht ausreichen, die weggefallenen Importe russischen Gases zum Teil durch Gaslieferungen aus anderen Ländern zu ersetzen und den heimischen Gasverbrauch zu reduzieren. Vielmehr sollten wir bislang übertünchte Zielkonflikte endlich offen diskutieren. Möchten wir tatsächlich mit unserer Wirtschaft weg von fossilen Rohstoffen, ohne eine Deindustrialisierung zu riskieren? Dann müssen wir dem Ausstieg aus Energieträgern einen entsprechenden Einstieg in Alternativen entgegensetzen, der nicht nur auf dem Reißbrett, sondern in der Lebenswirklichkeit funktioniert.
Stimme der Ökonomen
Klimawandel, Corona-Pandemie, Ukraine-Krieg: Wohl selten zuvor war das Interesse an Wirtschaft so groß wie jetzt. Das gilt für aktuelle Nachrichten, aber auch für ganz grundsätzliche Fragen: Wie passen die milliarden-schweren Corona-Hilfen und die Schuldenbremse zusammen? Was können wir gegen die Klimakrise tun, ohne unsere Wettbewerbsfähigkeit aufs Spiel zu setzen? Wie sichern wir unsere Rente? Und wie erwirtschaften wir den Wohlstand von morgen?
In unserer neuen Reihe Stimme der Ökonomen liefern Deutschlands führende Wirtschaftswissenschaftler in Gastbeiträgen Einschätzungen, Einblicke und Studien-Ergebnisse zu den wichtigsten Themen der Wirtschaft – tiefgründig, kompetent und meinungsstark.
Deutschlands Energieabhängigkeit von Russland: Seit über einem Jahrzehnt ein Thema
Es war noch nie ein gutes Rezept für erfolgreiches Krisenhandeln, lange mit den Entscheidungen zu hadern, die ursächlich zu dieser Krise geführt haben. Aber man sollte aus den Erfahrungen der Vergangenheit lernen. So hatten wissenschaftliche Beiträge bereits vor über einem Jahrzehnt die im internationalen Vergleich außergewöhnlich hohe Energieimportabhängigkeit Deutschlands von einem einzigen Lieferland, nämlich Russland, problematisiert. Seitdem hatte diese Abhängigkeit bis zum vergangenen Jahr aber sogar noch deutlich zugenommen. Entlang des Weges gab es einige Entscheidungen, die auf Basis der heutigen Erkenntnisse nicht wiederholt werden sollten.
So wurde die Konzentration auf russisches Pipeline-Gas durch den Bau der Ostseepipelines aufgrund der vermeintlich verlässlichen Verfügbarkeit von günstigem Erdgas weitgehend begrüßt, Kritik daran etwa aus den USA als interessengeleitet abgetan. Es läuteten auch keine Alarmglocken, als Gazprom große Teile der deutschen Erdgasinfrastruktur erwarb.
Heute dürfte man erkannt haben, dass Versorgungssicherheit stattdessen die Diversifizierung von Lieferquellen und das Vorhalten eigener Speicher unerlässlich macht. Statt auf die Verlässlichkeit des Partners Russland nach dem Motto „Wandel durch Annäherung“ zu vertrauen, wäre es besser gewesen, das Beste zu hoffen und sich dennoch auf das Schlechteste vorzubereiten.
Energiekrise: Kurzfristig müssen Kohle- und Kernkraftwerke länger laufen
Die starke Fixierung auf die Brückentechnologie Erdgas bei der Transformation zur Klimaneutralität half aber auch, unbequemen Diskussionen über Zielkonflikte auszuweichen. Denn einerseits einer Deindustrialisierung eine klare Absage zu erteilen, aber andererseits zugleich aus Kohle und Kernkraft auszusteigen, konnte als Narrativ nur überzeugen, weil man sich über die verlässliche Versorgung mit günstigem Erdgas vermeintlich keine Gedanken machen musste.
Nun ist die Realität mit voller Wucht angekommen: Es kann aktuell nur bedingt gelingen, das importierte russische Gas durch andere Gasimporte etwa durch Flüssiggas zu ersetzen, zumal die Infrastruktur für dessen Empfang und Weiterleitung noch nicht ausreichend vorhanden ist. Das Ausweichen auf Kohle und Öl wäre zwar aufgrund des europäischen Emissionshandelssystems zumindest kurzfristig für den Klimaschutz unschädlich. Dennoch wird es unverzichtbar sein, die Nachfrage massiv zu reduzieren. Dies ist aber mit Wohlfahrtsverlusten verbunden.
Energieangebot ausweiten - ohne ideologische Scheuklappen
Daher muss das Energieangebot ohne ideologische Scheuklappen ausgeweitet werden: Kurzfristig müssen Kohle- und Kernkraftwerke länger laufen, zugleich müssen wir jetzt in die Wasserstoffwirtschaft einsteigen, selbst wenn sie zu Beginn nicht vollständig „grün“ sein kann. Längerfristig sollten wir dann vor allem darauf achten, uns nicht mehr so abhängig von einem einzelnen Staat zu machen, damit sich eine Situation wie die aktuelle nicht wiederholt.
Zum Autor: Prof. Dr. Christoph M. Schmidt ist Präsident des RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung und Professor an der Ruhr-Universität Bochum. Von 2009 bis 2020 war er Mitglied des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, von März 2013 bis Februar 2020 dessen Vorsitzender. Seit Oktober 2019 ist er Mitglied, seit März 2020 Co-Vorsitzender des Deutsch-Französischen Rates der Wirtschaftsexperten.