Hohe Gaspreise: Europa muss einen Subventionswettlauf vermeiden

Im Kampf gegen die hohen Gaspreise sieht der Chef des Münchner Ifo-Instituts, Prof. Clemens Fuest, die EU in der Pflicht. Ohne eine Koordination der nationalen Krisen-Pläne drohe ein gefährlicher Subventionswettlauf in Europa - mit weitreichenden Folgen, warnt Fuest im Gastbeitrag.
München – Die Energiekrise – insbesondere der Engpass bei Gas aufgrund ausbleibender Lieferungen aus Russland – stürzt Europa in eine Rezession und führt zu sozialen Spannungen und Verteilungskonflikten. Die europäischen Regierungen suchen intensiv nach Möglichkeiten zur Entschärfung der Situation, doch der Erfolg wird sich nur durch enge Zusammenarbeit einstellen. Der grenzüberschreitende Energiemarkt muss weiterhin offen bleiben, und für die Europäische Union gilt es, ihre Marktmacht beim Kauf von Gas in Drittländern einzusetzen. Doch ohne Koordination der nationalen Strategien zur Krisenbewältigung könnte die europäische Antwort ein selbstschädigender Subventionswettlauf werden.
Hohe Gaspreise bilden den Kern der Krise
Drastisch steigende Energiepreise haben Produktion und Verbrauch gleichermaßen geschmälert, wobei die Haushalte auf die steigenden Kosten mit Einsparungen bei anderen Ausgaben reagieren. Einige Menschen greifen bereits auf ihre Ersparnisse zurück, während andere ihre Rücklagen noch nicht antasten wollen, da sie befürchten, diese später noch zu brauchen. Wieder andere haben freilich überhaupt keine Rücklagen.
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Der hohe Gaspreis bildet den Kern dieser Krise, da er sich nicht nur auf die Heizkosten, sondern auch auf die Industrie- und Stromproduktion auswirkt. Bei hoher Stromnachfrage reichen erneuerbare Energien, Kohle und Kernkraft nicht aus. Und da das teuerste aktive Kraftwerk den Strompreis bestimmt, hat der höhere Gaspreis auch den Strompreis stark ansteigen lassen – beide haben sich zwischen Januar 2021 und September 2022 etwa verzehnfacht.
Das Ausmaß der wirtschaftlichen und sozialen Turbulenzen wird in hohem Maße von der Reaktion der Regierungen abhängen. Zwei Ansätze sind möglich. Der erste besteht darin, direkt in die Energiemärkte einzugreifen und zu versuchen, Strom, Gas und Erdöl durch Steuersenkungen oder Subventionen billiger zu machen. Die Subventionierung von Gas zur Stromerzeugung in Spanien ist ein Beispiel für diese Option.
Gaskrise: Subventionen können Nachfrage ankurbeln
Der andere Ansatz besteht darin, von Preisinterventionen abzusehen und sich stattdessen darauf zu konzentrieren, einkommensschwache Haushalte oder stark betroffene Unternehmen mit pauschalen Transferleistungen zu unterstützen. Auf den ersten Blick scheint der erste Ansatz wirkungsvoller zu sein – und offenkundig attraktiv für Politiker, die den Eindruck erwecken wollen, das Problem direkt anzugehen. Allerdings sind damit zwei Nachteile verbunden.
Erstens kommen niedrigere Gas-, Strom- oder Ölpreise denjenigen zugute, die am meisten Energie verbrauchen, und das sind in der Regel Haushalte mit höherem Einkommen, größeren Häusern und größeren Autos. Diese Bevölkerungsgruppe kann nicht nur die höheren Preise auch jetzt ohne Hilfe verkraften, sie wird diese Subvention letztlich auch mit den Steuern bezahlen, die der Staat erheben muss, um die zusätzlich für diese Subventionierungen aufgenommenen Schulden zu bedienen.
Das zweite und bedeutsamere Problem ist, dass Subventionen oder Steuersenkungen die Nachfrage ankurbeln, weil sie den Anreiz zu einer Verringerung des Energieverbrauchs schwächen. Da Energie aber real knapp geworden ist, wird diese erhöhte Nachfrage auf ein unverändertes Angebot treffen, und die Preise werden steigen müssen, bis sich Angebot und Nachfrage wieder die Waage halten. Infolgedessen wird ein erheblicher Teil der Subventionen oder Steuersenkungen zu den Energieversorgern und nicht zu den Verbrauchern fließen.
Diese Fehlausrichtung ist insbesondere auf dem Gasmarkt problematisch, und zwar umso mehr, wenn Subventionen auf nationaler Ebene konzipiert und umgesetzt werden. Schließlich ist die Gasversorgung Europas bei ausgelasteten Flüssiggasterminals nicht besonders flexibel. Senkt ein einzelner Mitgliedstaat den Gaspreis durch Subventionen und andere Staaten tun nichts, so steigt der europaweite Gaspreis zwar ein wenig, aber es fließt deutlich mehr Gas in das Land mit den Subventionen, wodurch dem Rest Europas dieses Volumen entzogen wird.
Würden außerdem alle Staaten so handeln, gerieten sie in einen Subventionswettlauf, der die Situation aller Länder verschlechtert. Kann die in Europa in diesem Winter verfügbare Gasmenge nicht durch höhere Preisangebote gesteigert werden (weil es einfach kein Angebot mehr gibt), wird sich der Gaspreis um genau den Betrag der Subvention erhöhen. Das wäre so, als ob die Regierungen das Geld aus ihren Bilanzen direkt den Gasproduzenten schenken. Letztlich gäbe es überhaupt keine Entlastung der Verbraucher.
Wirksames Energiekrisenmanagement erfordert Koordination auf europäischer Ebene
Mit einer Politik, die sich darauf beschränkt, lediglich ärmere Haushalte und stark betroffene Unternehmen zu subventionieren, würde man beide Probleme vermeiden, weil nur denjenigen geholfen wird, die die Hilfe tatsächlich benötigen. Leider stehen die nationalen Regierungen aufgrund des Schocks über die steigenden Energiepreise unter zunehmendem innenpolitischen Druck, zur Senkung der Preise direkt zu intervenieren. In den meisten innerstaatlichen Debatten werden die weiterreichenden Konsequenzen derartiger Maßnahmen nicht berücksichtigt.
Erschwerend kommt hinzu, dass die grenzüberschreitenden Auswirkungen der Subventionen andere, dringend notwendige Maßnahmen beeinträchtigen. Ein wirksames Mittel zur Stabilisierung der Gas- und Strommärkte besteht beispielsweise in der Reaktivierung stillgelegter Kohle- und Ölkraftwerke sowie der Laufzeitverlängerung von Kernkraftwerken. Das würde die für die Stromerzeugung benötigte Gasmenge verringern und nicht nur dem jeweiligen Land, sondern ganz Europa zugute kommen.
Ein wirksames Energiekrisenmanagement erfordert Koordination auf europäischer Ebene. Wenn jedes Land nur seine eigenen Interessen im Auge hat, wird Europa wesentlich schlechter dastehen – und das ohne Notwendigkeit.
Zum Autor: Clemens Fuest ist Präsident des Münchner Ifo-Instituts und Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität München.
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