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Inflation in der Euro-Zone auf Rekordniveau: Warum die EZB eine große Mitschuld trägt

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Von: Prof. Hans-Werner Sinn

Hans-Werner Sinn, Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft an der Universität von München, war Präsident des Ifo Instituts für Wirtschaftsforschung und Berater des deutschen Wirtschaftsministeriums.
Hans-Werner Sinn, Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft an der Universität von München, war Präsident des Ifo Instituts für Wirtschaftsforschung und Berater des deutschen Wirtschaftsministeriums. © N. Bruckmann/M. Litzka/Imago

Die Inflationsrate in der Euro-Zone hat im September mit 10,0 Prozent ein Rekordhoch markiert. Der ehemalige Chef des Münchner ifo Instituts, Prof. Hans-Werner Sinn, erklärt im Gastbeitrag, warum die Europäische Zentralbank (EZB) neben der OPEC und dem russischen Präsidenten Wladimir Putin eine wesentliche Mitschuld an der Entwicklung trägt.

München – In der Eurozone galoppiert die Inflation und der Euro rauscht zu Boden. Musste man im Frühsommer letzten Jahres für einen Euro noch deutlich mehr als 1,20 Dollar bezahlen, so reichten am 27. September 96 Cent. Der Vertrauensverlust in den Euro ist gefährlich für die Stabilität der Eurozone, weil er zu einer sich immer schneller drehenden Spirale aus Inflation und Fluchtreaktionen führen kann, wie es derzeit in Großbritannien zu beobachten ist und zuvor bei so vielen Währungen dieser Welt, deren Zentralbanken nicht in der Lage waren, ihre Inflation in den Griff zu bekommen.

Beunruhigende Nachrichten aus Deutschland

Der Durchschnittswert der Konsumgüterinflation der Eurozone lag im August bereits bei 9,1 Prozent, und in den baltischen Ländern werden schon Werte über 20 Prozent registriert. Die jüngste Horrornachricht kommt aus Deutschland, dem größten EU-Land. Im August waren die gewerblichen Erzeugerpreise, die das Geschehen auf den Vorstufen der Industrieproduktion messen, um sage und schreibe 46 Prozent höher als im Vorjahresmonat, nach einem Plus von 37 Prozent im Juli. Die Preisstabilität, die der EZB im Maastrichter Vertrag als kompromissloses Ziel vorgegeben wurde, ist nicht einmal mehr an einem fernen Horizont zu erahnen.

Zieht man die langfristige Korrelation zwischen den Preissteigerungsraten der gewerblichen Erzeugerpreise und der Konsumgüter zu Rate, steckt in den 46 Prozent für Deutschland eine Konsumgüterinflation von bis zu 14 Prozent für den November in der Pipeline – bei allen Unsicherheiten, die bei einem solchen Schluss von der Vergangenheit in die Zukunft bestehen.

EZB bestreitet jede Mitverantwortung an rasant steigender Inflation

Die EZB bestreitet standhaft, dass sie eine Mitverantwortung für diese Entwicklung trägt. Weder die Pandemie noch das Verhalten von Wladimir Putin habe sie steuern können. Der Hinweis auf diese exogenen Ereignisse ist jedoch ein untaugliches Ablenkungsmanöver. Tatsächlich muss sich die EZB den Vorwurf gefallen lassen, dass sie maßgeblich zur aktuellen Inflation beigetragen hat, vermutlich sogar mehr, als auch andere Notenbanken der Welt es taten.

Stimme der Ökonomen

Klimawandel, Corona-Pandemie, Ukraine-Krieg: Wohl selten zuvor war das Interesse an Wirtschaft so groß wie jetzt. Das gilt für aktuelle Nachrichten, aber auch für ganz grundsätzliche Fragen: Wie passen die milliarden-schweren Corona-Hilfen und die Schuldenbremse zusammen? Was können wir gegen die Klimakrise tun, ohne unsere Wettbewerbsfähigkeit aufs Spiel zu setzen? Wie sichern wir unsere Rente? Und wie erwirtschaften wir den Wohlstand von morgen?

In unserer neuen Reihe Stimme der Ökonomen liefern Deutschlands führende Wirtschaftswissenschaftler in Gastbeiträgen Einschätzungen, Einblicke und Studien-Ergebnisse zu den wichtigsten Themen der Wirtschaft – tiefgründig, kompetent und meinungsstark.

Zum einen hat die EZB seit der Lehman-Krise die Zentralbankgeldmenge in Relation zur Wirtschaftsleistung doppelt so schnell ansteigen lassen wie die Fed und sehr viel keynesianischen Schuldendampf erzeugt, indem sie in riesigem Umfang, nämlich für 4,4 Billionen Euro, die Staatspapiere der Euroländer gekauft hat. Durch die Käufe, die seit dem Sommer des Lehman-Jahres (2008) 83 Prozent des Geldmengenzuwachses in Relation zur Wirtschaftsleistung umfassten, hat sie die Zinsen auf Staatspapiere bis in die Gegend von Null gedrückt.

Damit hat sie die Staaten veranlasst, unter Missachtung sämtlicher Schuldenpakte auf geradezu halsbrecherische Weise immer mehr Schulden aufzunehmen. Sogar die EU selbst machte zum Schluss bei dem Spiel mit, als sie ein 750 Milliarden Euro umfassendes Kreditprogramm beschloss, das den Namen Corona-Hilfen trug, doch in Wahrheit vor allem für die Unterstützung der schwächeren Länder des Mittelmeerraumes gedacht war. 

Staatsschulden als Zunder für die Inflation

Die gesamtstaatliche Schuldenquote inklusive der EU-Schulden wird durch diese Maßnahmen perspektivisch deutlich über 100 Prozent hinausgetrieben. Da Staatsschulden die gesamtwirtschaftliche Nachfrage erhöhen, hatte dies eindeutige Wirkungen auf die Inflation. Die coronabedingten Lieferengpässe und die Energieverknappung waren der Zündfunke der Inflation, doch die Staatsschulden waren der Zunder, der das Feuer nun lichterloh brennen lässt. 

Es kommt hinzu, dass die EZB auch die Euroabwertung erzeugte, die selbst wiederum inflationär wirkt. Während schon bei der Sitzung des Federal Reserve Board am 16. Juni 2021 klare Signale für eine Zinswende zu vernehmen waren, beharrte die EZB mit fadenscheinigen Begründungen noch zum Beginn des Jahres 2022 auf ihrer ultra-expansiven Geldpolitik.

EZB war auch Treiber der Energiepreise der Eurozone

Erst im Sommer entschloss sich auch die EZB zu einem zögerlichen Kurswechsel, der nur wenig an der wachsenden Zinslücke zwischen dem Dollarraum und dem Euroraum änderte. Die Folge war, dass Kapitalanleger nach wie vor in Scharen aus Europa nach Amerika flohen. In den ersten drei Wochen nach der Entscheidung des EZB-Rates von Anfang September stieg der Dollar um vier Prozent über die Parität zum Euro. Insgesamt betrug die Dollaraufwertung von der ersten Ankündigung der Fed im Juni 2021 bis zur Abfassung dieser Zeilen etwa 25 Prozent.

Um diesen Betrag stiegen ganz automatisch in der gleichen Zeit die in Euro umgerechneten Preise sämtlicher für den europäischen Markt wichtigen Güter, die auf dem Weltmarkt gehandelt werden. Die Importware verteuerte sich automatisch im gleichen Umfang, und die europäischen Exporteure konnten in diesem Umfang Preiserhöhungsspielräume nutzen, ohne Marktanteile zu verlieren. Natürlich übertrugen sich diese Preissteigerungen nicht sofort auch schon auf die nicht international gehandelten Güter und Dienstleistungen, doch ist es nur eine Frage der Zeit, bis die importierte Inflation auch sie erfasst.

Dollar-Hoch treibt Energiepreise

Zu den unmittelbar durch die Dollar-Aufwertung verteuerten Produkten gehörte auch die Energie. Nicht nur das Öl wurde um die erwähnten 25 Prozent teurer, als es durch die Angebotsverknappung in Einheiten von Dollar geschah, auch die europäischen Gaspreise stiegen. Zwar bildeten sich die Gaspreise bislang auf dem europäischen Markt weitgehend unabhängig vom Weltmarktgeschehen. Das ist aber nun wegen des Krieges ganz anders. Da Putin den Gashahn abgedreht hat, ist heute das auf den Weltmärkten gehandelte Flüssiggas (LNG) die marginale Lieferquelle. Der Weltmarktpreis des LNG ist die Kappungsgrenze, bis zu der seine Aktionen den Gaspreis hochtreiben können, und der Euro-Wert dieser Kappungsgrenze wurde durch die von der EZB verursachte Euroabwertung erhöht.

Die EZB selbst hat sich zu exkulpieren versucht, indem sie darauf hinwies, dass der Anstieg der Energiepreise gut ein Drittel der europäischen Inflation erklärt. Aber sie hat verschwiegen, dass ein Teil dieses Anstiegs auf dem Wege über die Euroabwertung von ihr selbst verursacht wurde. Neben Wladimir Putin und OPEC war sie der große Treiber der neuen Inflation der Konsumgüter im Allgemeinen und der Energiepreise der Eurozone im Besonderen.

Zum Autor: Hans-Werner Sinn, Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft an der Universität von München, war Präsident des Münchner ifo Instituts für Wirtschaftsforschung und Berater des deutschen Wirtschaftsministeriums. Sein jüngstes Buch hat den Titel: Die wundersame Geldvermehrung: Staatsverschuldung, Negativzinsen, Inflation, Herder, Freiburg 2021.

Copyright: Project Syndicate, 2022. www.project-syndicate.org

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